Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287[Firnhaber:5

Lieber Herr Capellmeister!
 
Auch ohne daß ich es Ihnen ausdrücklich sage, werden Sie überzeugt seyn, daß ich schon lange die Absicht mit mir herumgetragen, durch einen Brief mein Andenken bei Ihnen aufzufrischen. Was soll ich Sie mit einer Aufzählung aller der Umstände behelligen, die mich bislang an der Ausführung dieser meiner Absicht verhinderte? Ihnen so wenig wie Ihrer lieben Frau würde mit einer Relation über die vielen u mannichfaltigen Fêtes u dergl. Zerstreuungen gedient sey, mit denen man herkömmlicher Weise den neuen Ankömmling zu überschütten pflegt. Man trinkt, ißt, vergnügt sich hier just wie in den Gesellschaften überall, wo nicht die hohe Kunst eine himmlische Weise über die Menschen ausgießt. Getreu jedoch dem Grundsatze, unter Wölfen mitzuheulen, wenigstens anfänglich, habe ich mich einmal wieder mit lang gemiedener jugendl. Lust in derartige Vergnügungen gestürtzt, um die alte Melancholey zu bannen; u. das ist ein Grund des bisherigen Zögerns.
Die andere ist, Ihnen den Standpunkt des hies. musikal. Treibens schildern zu wollen; Sie sollen daraus Selbst den einfachen leichten Schluß ziehen, wie groß der Abstand von dem dortigen ist. Wie oft, wenn ich die Casselsche Zeitg. um Neuigkeiten befrage, u dort Ihre letzte Symphonie zum dritten Male angekündigt sehe, denke ich mit Sehnsucht an all das mir1 entschwundene musikal. Treiben zurück. Oder kommt der Freitag u ich denke der Quartetten – da wird mir der Kopf vollends kraus. Manche hohe Herrn haben schon durch gar mancherlei Geschichten auf einen Platz in der Hölle pränumerirt2, ich sagte Lucifer ruft auch mich einst zum Zeugniß auf: beweise ich dann, u wie sollte das schwer werden, daß durch das Unterbrechen meiner musikal. Lehrjahre mir die Gelegenheit abgeschnitten sey, den innersten Menschen vollends auszubilden, so denke ich, verjagte ich den Urheber all dieses Übels nach einem heißern qualvollern Platz. Sie sehen, Schmerz und Naschsucht ist noch immer eng bei mir verbunden, so liefere ich von dem eben Gesagten sogleich selbst den Beweis. Aber die Hoffnung bleibt immer, so denke ich dann, es kommt doch noch dazu, daß ich wieder nach Cassel darf u Ihnen von Angesicht zu Angesicht wie früher zeigen darf, wie glücklich mich ein Umgang macht, dessen Sie u Ihr ganzes liebes Haus während fünf Jahren mich3 gewürdigt haben. Doch will ich das ausmalen, so steht mir Ihre ernster Blick vor Augen u Sie hören Schmeicheleien nicht gern: das ist nicht die unliebenswürdigste Weise Ihres Characters.
Hanau ist für mich arm an musikal. Genüssen. Herabgestimmt habe ich mich also gleich; da bin ich zu einem Stadtpunkte gekommen, dessen Aussprüche zu befriedigen sind. Ein Hr Consistsekr. Spangenberg dirigirt einen musikal. Zirkel, der sich alle Donnerst. versammelt u von echtem Eifer beseelt ist.4 Von 7 bis 10 Uhr wird streng musicirt, dann unter Scherzen ein frugaler Imbiß genommen, wie ja einmal überall das Irdische mit dem Himmlische zusammen sich mengt. Nur Gediegenes wird tractirt (ich rede aber jetzt von den himmlisch. Genüsse), so weit die Kräfte reichen. Acht leidliche Stimmen theilen sich in der Arbeit u dem Genusse. Geistliches u Weltliches muß herbei: Beethovensche Messen, Schubertsche Motetten, Ihr Vater unser ist das Letzte, was wir gesungen. Unsere Prima Donna ist kein Jüngling mehr, sie zählt, habe ich mir sagen lassen, bereits 52 Jahre, aber diese Frau Colin5 hat sich ihre Stimme zu conserviren verstanden. Ich wüßte in Wahrheit, aus Ihrem ganzen Cäcilienverein ihr keine Stimme an die Seite zu stellen. Dabei intonirt sie glockenrein u hat recht hübsche Schule. Ich singe mit ihr sehr gern, zumal Ihre Duetten.
In den übrigen Gesellschaften wird zwar auch die edle Frau Musica ab u an getrieben. Doch die heere Jungfrau ist nun einmal eifersüchtiger Natur. Sie will stets mit Aufmerksamkeit behandelt seyn,6 mehr als eine Frau, stets wie eine Geliebte. Sie läßt sich nichts gefallen, en bagatelle behandelt zu werden, auch ihre Jünger nicht. Drum(???) verstehe ich mich nur selten dazu, dort eines meiner leichten Liederchen in die Welt zu schicken u mich an dem bekannten Einerley: wie schön, auch! wie herrlich, zu ergötzen, wenn dies Urtheil so frischweg über jeden unbedeutenden Blumenstrauß gesprochen wird. Ob mir‘s gelingen wird, einen Männergesang wenigst zu Stande zu bringen, wird die nächste Zeit lehren.
Wollen Sie nun wissen – u ich bin so kühn Ihnen diese Frage in den Mund zu legen – wie mir‘s im Allgemeinen hier gehe, so antworte ich nur unbestimmt. Die Freiheit ist ein schönes Gut. Genügsamkeit ist eine schöne Tugend. Freundliches Entgegenkommen besitzt manchen Unmuth. Ich bin also bislang leidlich zufrieden, zumal meine Dienstgeschäfte leidlich sind u meine collegial. Verhältnisse angenehm. Will‘s gar nicht mehr gehen, so eile ich gen Frankfurt in die Oper, oder in‘s Conzert. Mir gefällt das Orchester dort recht wohl: der Abstand der Oper im Allgemeinen von der Ihrigen ist aber groß. Neulich hörte ich den Templer u die Jüdin. Besonders abgeschmackt war es, daß in dem Liede des Barfüßermönchs statt „Ora pro nobis“7 gesungen wurde „Gaudeamus“8 wie ich höre, aus Régard9 für die frommen Katholiken.10 Das nennen sie einen Freistaat. Wäre ich der Componist, ich litte solche Änderung nicht, die das ganze Wesen der Composition durch u durch angreift. - Nächstens werde ich auf längere Zeit nach Frankf. gehen.
Meine ursprüngl. Idee nemlich, zu Ostern die fast dreywöchentl. Ferien in Cassel zuzubringen, habe ich aufgegeben. Ich war ja erst eben da; bin kaum aus dem Hofgeblätsch11 heraus, will auch tüchtig arbeiten. Ich verspare mir also das Vergnügen, Sie wieder zu sehn, auf eine spätere Zeit; vielleicht auf Johannis, wo ich zum Besuche meines Kindes12 jedenfalls wieder nach Verden reise. Dem letzteren geht‘s gut, wie mich ein gestriger Brief gelehrt.
Doch genug des Geschätzes. Ich könnte es nie verantworten, entzöge mein Brief Ihnen etwas von der Zeit, die gar nicht Ihnen, die vielmehr der Welt u Ihrer leiben Frau gehört. Ich erinnere Sie an Ihr Versprechen, daß Sie mich‘s wissen lassen, wenn etwas Neues für Gesang Ihrem Genius entsprungen. Außer dieser bescheidenen Anmahnung die freunschaftlichsten Grüße an Ihre liebe Frau, und deren Familie, an Wolfs u das ganze Quartett von
 
Ihrem
Ihnen herzlich ergebenen
Firnhaber
 
Hanau 8ter März 1842.
 
Daß es Ihrer Cousine13, liebe Fr. C.14(?), hier woll gefällt, hat dieselbe wol selbst geschrieben, daß sie aber hier sehr gefällt, müssen Andere schreiben. Ich thu es gern. Empfehlen Sie mich doch deren Eltern15 mit einem nochmal. Danke für deren Empfehlungen. - Auch für Hopffes einen innigen Gruß.



Der letzte erhaltene Brieef dieser Korrespondenz ist Firnhaber an Spohr, 03.01.1842. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Firnhaber an Spohr, 25.10.1842.
 
[1] „mir“ über der Zeile eingefügt.
 
[2] pränumerieren = vorausbezahlen (Friedrich Erdmann Petri, Gedrängtes Deutschungs-Wörterbuch der unsre Schrift- und Umgangs-Sprache, selten oder öfter entstellenden fremden Ausdrücke, zu deren Verstehn und Vermeiden, 3. Aufl., Dresden 1817, S. 369).
 
[3] „mich“ über der Zeile eingefügt.
 
[4] Zur Musikalischen Akademie vgl. „Chronik der Fortschritte der Cultur in der Provinz Hanau. Zeitraum von 1831 bis 1837“, in: Zeitschrift für die Provinz Hanau 1 (1839), S. 64-108, hier S. 77.
 
[5] Möglicherweise Maria Anna Karoline Colin, deren Geburtsjahr 1792 allerdings 1-2 Jahre von dem von Firnhaber gegebenen Alter von 52 Jahren abweicht (vgl. Max Aschkewitz und Lorenz Kohlenbusch, Pfarrergeschichte des Spengels Hanau („Hanauer Union“) bis 1968 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 33,2,2), Marburg 1984, Bd. 2, S. 669).
 
[6] Hier ein Buchstabe gestrichen.
 
[7] Lat.: „Bitte für uns“.
 
[8] Lat.: „Lasst uns fröhlich sein“.
 
[9] Frz.: „Rücksicht“.
 
[10] Vgl. „Zensurschwierigkeiten in katholischen Ländern provozierte vierlerorts der Refrain ,Ora pro nobis‘ aus Tucks Barfüßler-Lied, der sich mancherlei groteske textliche Verballhornungen gefallen lasse mußte“ (Jürgen Schläder, „Der Templer und die Jüdin. Große romantische Oper in drei Akten“, in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, hrsg. v. Carl Dahlhaus und Sieghart Döhring, Bd. 3, München und Zürich 1989, S. 677-681, hier S. 680.
 
[11] blätschen = blöken, meckern, jämmerlich weinen (vgl. Rheinisches Wörterbuch, hrsg. v. Josef Müller, Bd. 1, Bonn 1928, Sp. 755, Onlineversion).
 
[12] Carl Wilhelm Firnhaber.
 
[13] Noch nicht ermittelt.
 
[14] Möglicherweise für „Capellmeister“?
 
[15] Noch nicht ermittelt.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (28.09.2018).