Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287
Inhaltsangabe: Herfried Homburg, „Louis Spohrs erste Aufführung der Matthäus-Passion in Kassel. Ein Beitrag zur Geschichte der Bachbewegung im 19. Jahrhundert“, in: Musik und Kirche (1958), S. 49-60, hier S. 54, Anm. 33

Catlenburg am 10t November 1841.

Erlauben Sie, mein innigst verehrtester Gönner! mich den Wünschen meiner Frau anzuschließen, daß die beygehenden Erstlinge der nun wiederkehrenden Winter-Küchen-Ergötzlichkeiten Ihnen wohl schmecken mögen? – mir scheint, daß dieses Mahl diese erste Auflage eine erträglich gute Meinung für die folgenden begründe; – worüber denn besonders auch Dslle Sander sehr erfreut ist. –
Zu meiner großen Freude hörte ich in der Sommer-Messe zu Braunschweig von Ihrer verehrten Frau Tochter, der Frau Professorin Wolf, daß Sie wie Ihre theure Frau Gemahlin glücklich u sehr befriedigt von der interessanten Schweitzer-Reise zurück gekehrt, u auf solcher auch vom Wetter viel mehr begünstigt seyen, als man bey dem in derselben Epoche hier uns endlos quälenden schauderhaftesten Regen-Traufen das erhoffen konnte! – Da namentlich auch Ihnen auf Ihrer Reise unsere Gedanken, mit großer Theilnahme an solche vermutheten Verbitterung ihrer Genüße, fast täglich zugehörten! – Um so erfreulicher also die Nachricht, daß die reitzenden Schweitzer-Söhne eines günstigern Wolkenzuges sich zu erfreuen hatten! –
Am 4t May war ich von Leipzig ab auf 24 Stunden mit Hülfe der Eisenbahn in Dresden um Euryanthe zu sehen, u das neue Opernhaus. Dieses ist allerdings das prachtvollste, was ich bis jetzt sahe. Gleichwohl nicht frey von einigen wesentlichen Fehlern; welche eben davon die Folge zu seyn scheinen, daß man wieder antiker Pracht des innern Ausbaus der Zweckmäßigkeit nichts hat zum Opfer bringen wollen. Mündlich mehr darüber. –
Die Ausführung der Oper selbst war allerdings sehr großartig. Doch ziehe ich die Braunschweiger Oper, soweit eine Haupt-Vorstellung das beurtheilen läßt, entschieden vor; – woran aber vielleicht auch die Nichterfüllung der von der Schröder-Devrient gehegten Erwartungen einigen Antheil haben könnte; die gleich zu Anfang durch einige starke Detonirungen mich sehr überraschte. – Nachmahls habe ich in Braunschweig ihr Spiel allerdings noch einige Mahle mit großem Genuße gesehen, – auch in ihr außer der Bühne eine ungemein geistreiche u unläugbar liebenswürdige,1 oder doch sehr interessante Frau kennen lernen; aber mit ihrem Gesange – ist’s vorbey! … wenn gleich ihre Stimme noch2 so stark ist, daß ich im Deutschen Hause von ihrem Uebungen – durch 6 dazwischen liegende Zimmer etwa getrennt, – jeden Ton hörte!
Zu dem Sptmbr. Musikfeste wollte ich eigentlich nicht nach Braunschweig gehen, – ehrlich gestanden, weil es mich unbezwinglich indignirte, daß man3 grade bey der Veranlassung nicht wenigstens versucht habe, eines Ihrer Meisterwerke unter Ihrer Leitung die Versammlung der deutschen Naturforscher verherrlichen zu lassen! –
Ich erhielt aber nochmahls eine aus mehren Rücksichten nicht ganz abzulehnende Einladung mich der Land- und Forstmeisterschaftl. Section solcher Versammlung anzuschließen4, und allerdings auch fürsichtlich der recht großen musikalischen Genüße habe ich doch nicht zu bereuen gehabt, jene überall gar vielseitig interessanten Tage in Braunschweig zugebracht zu haben. –
Am Eröffnungstage die Ausführung so wohl der Mozartschen Hymne als des Händelschen Halleluja waren begeisternd vortrefflich!5 Das Schneidersche Weltgericht hat mich ungleich mehr befriedigt, als was ich sonst von ihm hörte. Doch der zwecklose Lärm hinter fugirten Chören läßt auch hier empfinden, wie er solchen großartigeren Genre der Composition nicht gewachsen ist u mehr die mechanische Gewalt der Instrumenten- u Kehl-Massen zu Hülfe nimmt als die innere Macht der Harmonie. Aber die Solo u Quartett pp Gesang-Nummern darin, waren, bey solcher Ausführung wenigstens, theilweise wahrhaft entzückend – vor allem zeichneten sich darin zwey Nummern im 3ten Theile resp. mit obligater Violine6, und die andere mit 3 Violoncellen aus7, von unbeschreiblich lieblicher Wirkung! – Ueberhaupt übertrafen die Fischer, Schmetzer und die Müller, so zu sagen sich selbst an dem Abende.8
Auch war der sonst zu große Schall dieser schönen Kirche durch Gardinen(???), und den Vorbau(???) der Herzoglichen Loge, wie gegenüber der Redner-Bühne, und durch die Anwesenheit von reichlich 3000 Personen, bis zu völligen Verständlichkeit als die Verhältnisse zu den Sängern nicht all zu großen Orchester auf erwünschte Weise gemäßigt.9
Unsere Sections-Sitzungen fingen meistens um 8 Uhr Morgens an, u dauerten bis 11-12 Uhr fort, und nach der, die Stunden von 1-3 Uhr angehenden, gemeinschaftl. Mittagstafel10, wiederum von 5 bis 8½ -9 Uhr Abends; wo dann noch die geselligen Versammlungen in den herzoglichen Casino-Säalen bis Mitternachts folgten! – In diesen war eine erfreuliche Erscheinung, daß – wenn gleich auch der Tanz als Contrapunkt dieser Versammlungen sie jeden Abend sehr besucht seyn ließen, – doch der Abend die vollständigste Ueberfüllung des Locals herbeyführte, welchen, statt des Tanzes musikalische Soirée unter Mitwirkung der Marx, den beyden Quenstedt, u den Gebrüder Müller angesagt war. Dieser Abend ließ das Locale so vollkommen unzureichend für den verdreifachten Zudrang erscheinen daß ein schon feststehender 2ter derartiger, den Tanz ein Mahl ablösender, Abend, rein aufgegeben werden mußte! –
Nur die Hugenotten ließen uns für einen Abend die Abend-Sections-Sitzung aussetzen; u deren Ausführung gelang wiederum so vollständig, daß ich auch dieses 8te Mahl diese Oper wieder mit nur noch erhöhten Genüßen, u bis gegen Mitternacht sie mittels(???)11 gespanntester Aufmerksamkeit hörte; während sie in Leipzig, – wo ich sie zuletzt vorher hörte, – ungeachtet aller Abkürzungen mich so unerträglich langweilte, daß ich in dem ganzen übrigen 8 Tagen die dasige Oper überall nicht wieder besuchte. So besetzt nun alle Tages- u Abend-Runden in Braunschweig auf jene Weise auch scheinen; so würden doch zwey ungemein interessante Privat-Parthien in dem so kunstliebenden v. Bülowschen Hause dazwischen herausgerissen; die eine in den Mittagsstunden von 1 bis 2 Uhr, u die andere in den Abenstunden von 9 Uhr bis Mitternacht. Wir hörten dort außer einigen der herrlichen Müllerschen Quartette auch das Mendelsohnsche Octett von den Müller u dem Zimmermannschen Quartette aus Berlin ausgeführt, in dessen Schluß-Presto die Herren an Kühnheit u Feuer sich gleichsam zu überbiethen schienen; ohne jedoch der Klarheit u präzisen Deutlichkeit dadurch zu schaden. – Einige Quartette aber, welche die Berliner Herren allein vortrugen, – von Haydn das mit den Variationen auf Kayser Franz von Beethoven das offenbar ihre Kräfte übersteigende aus Es-Dur, – blieben höchst bedeutend hinter der Müllerschen Quartett-Vollendung, wie auch gegen Ihr dortiges höchst vortreffliches Quartett zurück. –
Wir sollten an dem Abende eigentlich auch eines Ihrer herrlichen Doppel-Quartette hören; was leider dadurch gestört wurde, daß Carl Müller, gegen seine erstige Hoffnung, von einem andern schon früheren Engagement sich nicht loos zu machen vermogte. – Es waren an dem Abende allein vier mir bekannt gewordene Privat-Musik-Parthien in Braunschweig, – ungeachtet des Saales in den herzogl. Casino-Saelen, u des Faust von Goethe im Theater. – Ein herrlich verbreiteter Sinn für Musik in dieser wohlhabenden Stadt! – –
Gegen welchen indeßen eine argen Contrap. bildete, daß bey dem Schneiderschen Oratorio in der herzogl. Loge 12 ungeheure Kirchen-Wachslichter auf 2 Kandelabern nutzlos brannten; indem Sr Durchlaucht – – auf die Fuchsjagd gefahren waren, zur Zeit des Anfangs dieser festlichen Ausführung! – Wenn gleich die Ausschmückung der Kirche ungemein luxuriös war, u unter anderm für 500 Rth Wachslichte, in allen Formen von Lichtbüscheln vertheilt, der große Raum so hell machten, daß man auf jedem Punkte bequem lesen konnte: so waren doch von diesem Oratorium-Concerte dem Orchester pp Pensionsfond Netto 2000 Rth abgeliefert; was allgemein Befriedigung gewährte. –
Als Aufklärung nun, daß man nicht wenigstens versucht habe, Sie, mein unaussprechlich verehrter Gönner! vor jedem andern für die Leitung gerade dieses Musikfestes zu gewinnen, erläuterte mir Carl Müller, wie davon allerdings erst die Rede gewesen sey, wie man aber, die Orchester-Mittel für zu schwach erachtet habe, um Ihre Einladung dazu zu wagen; u dann hauptsächlich, weil der Beschluß des ganzen Musikfestes zu spät gefasst sey, um das Einstudiren eines Ihrer ungleich schwierigeren Oratorien in dem lediglich einheimischen Gesangpersonale noch möglich zu machen; was für das nicht nur ohne allen Vergleich leichtere, sondern noch seit langen Jahren, schon dem dasigen Gesang-Vereine genau bekannten, u schon öfter aufgeführten Weltgericht eher zu erreichen gewesen wäre. – Es liege nun aber schon jetzt ein Musikfest im Plane – zur Einweihung der Braunschweig-Magdeburger Eisenbahn, die man in etwa 2 Jahren erhoffe – welches großartiger werden solle, als je eines zuvor in Deutschland, indem man zur Verherrlichung der Eisenbahn-Verbindung suchen werde, den Kern der Berliner, Dresdener, und Müncher pp Capellen in der Aegidien-Kirche zu versammeln u dafür dann eines ihrer Werke zu wählen u Ihre dirigirende Mitwirkung zu erbitten, liege allerdings bereits im Plane! –
Eine herrliche Aussicht denn – das auch Sie denn Ihre, so viel begeisterte Elemente bemeisternde, Mitwirkung hoffentlich nicht entziehen werden! –
Ich bemerkte Müller12 vorläufig, daß sich namentlich auch Ihr neuestes Oratorium, der Fall Babylon’s, ganz vorzugsweise für eine solche Kirchen-Aufführung eignen werde! –
Zu wünschen wäre denn nur, daß in der Kirche die, aus mißverstandenen acustischen Erwartungen weggenommenen, Priechen13 würden zuvor hergestellt werden mögten, damit solche statt der jetzigen 3000 Menschen, ihn mit 5-6000 fasse! – Damit man bey solchen Gelegenheiten hinein gelangen kann, ohne, wie bey dieser letzten Aufführung, Hals und Beine in dem Gedränge zu riskiren; was in der Furcht, keinen Platz mehr zu finden, schon volle 2 Stunden vor dem Anfange auch den kühnsten Muth zweyfelhaft werden ließ, ob man mit gesunden Gliedern nur die Thür erreichen werde! – Aller Polizey-Soldaten pp zum Trotze! –
Mendelsohn war während meiner Anwesenheit in Leipzig leider nur 3 Tage heimisch: indem er von Dresden kam, u nach Berlin wieder abreiste. – Seine ungemein freundliche Intention ungeachtet Hrn David’s Abwesenheit mir einige interessante musikalische Stiunden zu bereiten, war in den argen Meß-Trublen nicht zu realisiren! Er freute sich ungemein, von Ihrem neuen Piano-Trio von mir zu hören, und äußerte große Sehnsucht, Sie an Spontini’s Stelle nach Berlin versetzt zu sehen! – Verzeihen Sie es meinem Egoismus, daß mich dessen Erwähnung eigentlich erschaudern ließ! – u daß mir die hinzugefügte Vermuthung fast tröstlich war, daß Meyer-Beer solche Anstellung zu verfolgen scheine! – Hinsichtlich seiner selbst äußerte er, daß er sich niemahls zu der Uebernahme eines Opern-Dirigirens würde entschließen können. – Die diesem so genialen als liebenswürdigen Manne seitdem übrigens zu theilgewordenen Anerkennung u Begünstigung von seinem geistreichen Könige, wird auch Sie lebhaft erfreut haben! –
Doch verzeihen Sie die unbescheidene weite Ausdehnung dieser durchaus flüchtigen Relationen! – Je länger ich den Genuß der Unterhaltung mit Ihnen allerdings aus Discretions-Rücksichten mir versagte, desto indiscreter ist es allerdings, mich davon nun um so viel länger fesseln zu lassen, auf Kosten Ihrer Zeitverwendung, – von welcher jeder Moment ein kostbarer für die ganze musikalische Welt ist! –
Kann es ohne Ihre Beschwerde u resp. Entbehrung geschehen: so mögten wir uns den Vorschlag erlauben, daß Sie eine Leber- u eine Weis-Wurst der Frau von Malsburg Excell.14 mit unserem angelegentlichsten Empfehlungen präsentiren lassen mögten!
Vor einiger Zeit hieß es, Liszt werde dort erwartet. – Realisirte sich das so würde ich Ihnen thunlichst zeitigen Awis15 gar dankbar verehren. – – Kommt Ihre für Wien componirte Symphonie in diesem Winter-Concert nicht ein Mahl an die Reihe?? – Ihrem ferneren freundlichen Wohlwollen wie Ihrer so gar liebenswürdigen gnädigen Gemahlin mit meiner Frau mich denn erneuert so innig verehrungsvoll u dankbar empfehlend, als
treu gehorsamst
CFLueder.



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Lueder an Spohr, 26.05.1841. Der Postweg dieses Briefs überschnitt sich mit den derzeit verschollenen Briefen Spohr an Lueder 10. und 12.11.1841.

[1] Hier ein Wort gestrichen.

[2] „noch“ über der Zeile eingefügt.

[3] „man“ über der Zeile eingefügt.

[4] Lueder referierte über die Traberkrankheit bei Schafen (vgl. F[riedrich] K[arl] von Strombeck und [David] Mansfeld, Amtlicher Bericht über die neunzehnte Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Braunschweig im September 1841, Braunschweig 1841, S. 188f.) und die Krankheiten der Ceralien (ebd., S. 191-196; s.a. seinen Diskussionsbeitrag zu Steckrüben S. 190).

[5] „Die erste Generalversammlung am 18. Septbr. wurde mit einer Hymne Mozart ’s, der ein passender Text untergelegt worden war, u. Händels Halleluja, von etwa 800 Mitwirkenden ausgeführt […]“ („Ueber die 19. Versammlung deutscher Naturforscher u. Aerzte zu Braunschweig im Jahre 1841“, in: Jahrbücher der in- und ausländischen gesammten Medicin 33 (1842), S. 142ff., hier S. 142; vgl. Amtlicher Bericht über die neunzehnte Versammlung, S. 22).

[6] Nr. 29 (Friedrich Schneider, Das Weltgericht. Oratorium von August Apel […] Partitur, Leipzig o.J., S. 247-254).

[7] Nr. 23 (ebd., S. 220ff.).

[8] Zur Aufführung am 21.09.1841 vgl. „Aus Braunschweig. 24. September“, in: Ost und West (1841), S. 328; „Aus dem Braunschweigischen. Das Fest der Naturforscher“, in: Zeitung für die elegante Welt 41 (1841), S. 791f., hier S. 792; „Braunschweig“, in: Der musikalische Postillion 1 (1841), S. 185; Emil Belana, „Die Naturforscher in Braunschweig“, in: Abendzeitung <Dresden> (1841), S. 2057-2062, 2068ff., 2073-2077 und 2082-2086, hier Sp. 2084f.

[9] Vgl. Amtlicher Bericht über die neunzehnte Versammlung, S. 11f.; Belana, „Naturforscher“, Sp. 2058f.

[10] Vgl. Amtlicher Bericht über die neunzehnte Versammlung, S. 7 und 10f.

[11] „mittels“ über der Zeile eingefügt.

[12] Karl Müller.

[13] „Prieche“ = hier wohl Kirchenempore (vgl. Luther Augustin an Spohr, 01.05.1833).

[14] Abk. f. „Excellenz“ (zur Verwendung für das Ehepaar von der Malsburg vgl. „Bestand und Leitung der Vereine“, in: Periodische Blätter der Geschichts- und Alterthums-Vereine zu Kassel, Darmstadt, Frankfurt, Mainz und Wiesbaden (1854), S. 10).

[15] „Avis, it. Kfspr. Aviso, Bericht, Nachricht“ (Friedrich Erdmann Petri, Gedrängtes Deutschungs-Wörterbuch der unsre Schrift- und Umgangs-Sprache, selten oder öfter, entstellenden fremden Ausdrücke zu deren Verstehen und Vermeiden, 3. Aufl., Dresden 1817, S. 53).

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (19.05.2021).