Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287
Druck: „Briefe von Friedrich Kühmstedt“, in: Urania 51 (1894), S. 5f., 22, 30f., 38f., 45f., 61f. und 86f., hier S. 38f.

Hochwohlgeborner Herr,
hochzuverehrender Hr. Kapellmeister!

Obwohl ich weiß, daß Ew. Hochwohlgeboren die Zeit kostbar ist, ja daß der, welcher Ihnen Zeit raubt, wahrhaftig eine Sünde gegen den heiligen Geist der Kunst begeht, so wage ich es doch – im Vertrauen auf die allgemein bekannte und auch schon gegen mich und meine musikalischen Bestrebungen bewiesene Nachsicht Ew. Wohlgeboren – Sie mit diesem, langen Briefe und einer ergebensten Bitte in Bezug auf beiligendes Oratorium: Der Sieg des Göttlichen, zu belästigen. Und ich habe nicht zu befürchten, von Ihnen mißverstanden zu werden, da Ew. Wohlgeboren schon seit vielen Jahren als Stern erster Größe am Kunsthimmel glänzen, folglich den Kelch der Lust und Schmerzen ganz geleert haben, den uns die Kunst bietet. Dies Alles, aber noch mehr die unbegrenzte Liebe und Verehrung, von der ich mich gegen Ew Wohlgeboren durchdrungen fühle, bestimmen mich, vor Ihnen unverhohlen mein Herz zu öffnen. So sei es.
Wer zur Kunst berufen ist, in dessen Belieben steht es nicht mehr, ob er in der Kunst thätig sein will oder nicht; er muß schaffen; und wer diesen Drang in sich fühlt, der ist berufen, ein Diener der Kunst zu sein. Gesellt sich zu dem Drange noch der Grad von allgemeiner Bildung, vermöge deren er zum Bewußtsein in der Kunst gelangen, d.i. durch die Vernunft eine klare Anschauung erhalten kann, was die Kunst ist und soll, so muß ihn das Streben nach höherer Vollendung, größerm Wirkungskreis unwiderstehlich ergreifen. Und nur der Grad der Verwirklichung dieses Strebens bestimmt den Grad seiner Glückseligkeit.
Was mich betrifft, so glaube ich nicht unberufen in das Heiligthum der Kunst eingedrungen zu sein, sonst wäre der mir von Jugend auf innewohnende und durch keine Verhältnisse zu vernichtende Drang, musikalisch zu schaffen, also mein ganzes Gefühl, mein Wesen, mein Ich, eine Lüge. Noch hat mir aber das Schicksal nicht vergönnt, mein Licht, mag dies nun groß oder klein sein, leuchten zu lassen. Noch bin ich in der musikalischen Welt ein Kind, das kaum die ersten Lebenszeichen von sich gegeben hat, oder geben konnte. Lag die Schuld mit an mir? Ich will es nicht in Abrede stellen. Gewiß hatten aber die unglückseligen Verhältnisse auch Schuld, die mich hinderten, gleich mit andern Künstlern meines Alters in Reihe und Glied zu treten, und den Wettlauf zu beginnen. Kurz ich sitze jetzt in den traurigsten, erbärmlichsten Verhältnissen, die mir kaum die kümmerlichste Existenz sichern – abgeschnitten von der ganzen musikalischen Welt, unvermögend mit ihr Schritt zu halten, da mir alle Gelegenheit, Meisterwerke zu hören u. zu studiren mangelt – ich sitze noch in einem Alter von 32 Jahren in Eisenach und muß täglich 6 bis 8 Stunden am Gymnasium und Seminar die allerersten Anfangsgründe der Musik wiederkäuen. Ja ich fürchte beinahe, daß die Hoffnung, mich aus diesem Elend herauszureißen, verloren ist. Mein Einkommen hier ist zu gering, als daß ich ein Opfer zu Gunsten meiner Kunst bringen könnte. Von alle den Meisterwerken eines Gluck, Händel, Bach Haydn, Mozart, Beethoven, Weber, Spohr Cherubini habe ich mir noch weiter keine in Partitur anschaffen und studiren können, als den Fidelio und den Messias. Alle die herrlichen Quartette, Symphonien, Opern u. Oratorien von Ew. Wohlgeboren und den genannten Meistern, in denen die ganze Welt schwelgt, sind – und bleiben mir wahrscheinlich auch unbekannt, wenn sich der Himmel meiner nicht bald erbarmt, und mich über Stock und Stein von Eisenach wegführt. Noch habe ich nicht einmal ein einziges meiner eigenen Werke gehört. Ist das nicht Jammer und Elend?! Und dies ist ja beinahe die einzige Freude, die die Künstler, wenigstens viele derselben haben, nämlich: ihre Geisteskinder wie die Schmetterlinge in die Welt hinflattern zu sehen. Wird einem aber auch diese Freude vergällt, o dann ist das Leben eines Künstlers das bedauernswertheste. Denn es mißt die Menge den Werth des Mannes oder Künstlers nur nach dem Grade, in welchem er die Augen des Publikums auf sich zu ziehen weiß, nicht nach seinem innern, wahren Werthe, nicht nach dem Grade seines Wirkens im engern Kreise. Nicht einmal werden die dem öffentlichen Auftreten entgegentretenden, oft unbesiegbaren Hindernisse berücksichtigt. Kurz, der Künstler ist ein Mensch der Öffentlichkeit. Kann es mir nun,1 nach dem, was ich bisher gesagt habe, verdacht werden, wenn ich alles versuche, um meinem Namen Klang in der musikalischen Welt zu verschaffen? Wie aber eben jene in der That ungeheuren Schwierigkeiten und Hindernisse beseitigen, die der Aufführung eines größern Werkes entgegenstehen? Ich weiß jetzt kein anderes als
mich vertrauensvoll mit der ergebensten Bitte an Ew. Wohlgeboren zu wenden, doch beiligendes Oratorium in so fern zu berücksichtigen, daß es unter der Leitung Ew. Wohlgeboren in einem Koncerte in Cassel, mit Begleitung des ganzen Orchesters, zur Aufführung kommt. Es könnte ja solch ein Concert zu irgend einem guten Zwecke, etwa für die dortigen Armen pp. geschehen.2 Mir wäre das gleich, wenn es nur unter der Direktion Ew. Wohlgeboren zur Aufführung kommt.3 Dies wäre das beste Zeugniß für mein Werk u. würde mehr wirken, als alle Recensionen in den Zeitungen. Ich könnte dann auch mit Gewißheit prädiciren, daß mein Werk auch noch an andern Orten Eingang fände.
Glücklich wäre ich, wenn ich von Ew. Wohlgeboren bald eine erfreuliche Nachricht bekäme.
Nachdem ich nun Ew. Wohlgeboren mein ganzes Herz geöffnet habe, bitte ich schließlich nochmals die Länge meines Briefes zu entschuldigen u. die Versicherung zu genehmigen, daß ich mit
unbegrenzter Verehrung bin

Ew. Wohlgeboren
ganz ergebenster
F. Kühmstedt.

Eisenach am 3ten Nobr.
1841.



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Kühmstedt an Spohr, 17.04.1841. Spohrs Antwortbrief ist derzeit verschollen.

[1] Hier gestrichen: „abe“.

[2] Hier ist ein nicht mehr leserliches Wort gestrichen.

[3] Eine Privataufführung des Cäcilienvereins für Kühmstedt am 05.11.1842 wurde besprochen in: „Friedrich Kühmstedt”, in: Allgemeine musikalische Zeitung 45 (1843), Sp. 87-90, hier Sp. 89f.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Wolfram Boder (03.07.2020).