Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

An
den Churfürstlich Hessen-Casselschen
Hofcapellmeister Herrn Doctor Louis Spohr
Hochwohlgeboren.

Cassel.

d. G.1


Der Wunsch und die Bitte einer Schülerin, die Ihnen, mein verehrter und innig geliebter Freund, empfohlen werden möchte, ist zwar die nächste Veranlassung dieser Zeilen; doch brauche ich Ihnen wohl nicht zu betheuern, daß es bei mir keinen solchen Anregungen bedarf um Ihre mit jener alten Liebe und tief in mein Herz geprägten hohen Achtung zu gedenken, mit der es sich so gern der schönsten und edelsten Freude erinnert. Möchte es mir nur noch Einmal zu Theil werden Sie wiederzusehen und das Fest Ihrer Erneuerung feiern zu können! – Nun zur Sache!
Dlle Julie Harting, Tochter einer verwittweten Hofräthin Harting hier, über die Sie in der Leipziger allgem. musikal. Zeitung v. 29ten Juli2 vorigen Jahres Etwas gesagt finden3, hat bei mir von Oct. 1838 bis Oct. 1840 Gesangunterricht gehabt, vorher ½ Jahr bei dem Gesanglehrer des Theaters MDr Beutler. Ihre Stimme Mezzosopran4 hat seit ich sie unterrichtet, an Kraft, Schönheit und Umfang (alle Töne von [Nbs.: „f zu b2“] sind gleich gut) bedeutend gewonnen und man kann sagen: eine Stimme dieser Art, kräftig und reich, leicht ansprechend und von edlemzum Herzen dringenden Klang ist selten. Sie hat auch als ich sie vergangenes Jahr mit mir in Leipzig, Dresden und Dessau bei Reissiger, Fink, Morlachi und Miksch, die sich schriftlich sehr zu ihren Gunsten geäussert, so wie bei Friedrich Schneider viel Anerkennung gefunden. – Bei der hiesigen k. Oper, wo bis zum Oct vergangnen Jahres als Choristin angestellt war, hat sie wiewol sie groß und schön gewachsen und von überhaupt5 von angenehmen Äussern ist, nicht weiter gelangen können, da Spontini nur nach sehr hohen Stimmen trachtet und Unverstand, Neid und Cabale bei allem Mangel an Sängerinnen darf hier allerhöchstens solche aufkommen lassen, die vom Theatergesanglehrer hier gebildet sind. Indem ist Fräulein Harting von stiller und sanfter und von so gesitteter Art als daß sie hier Aussichten hätte haben sollen. – Im Oct. vorigen Jahres ging sie nach Stralsund und trat dort und in Rostock zwar in Montecchi und Capuletti als Romeo mit Beifall auf. Doch sagten ihr die dortigen Verhältnisse nicht zu und sie kehrte ungeachtet der Wünsche der Direction sie auf 2 Jahr zu engagiren im December hieher zurück. Nun glaubt sie einer ihr gemachten Mittheilung zu folge es werde an Ihrem Hoftheater ein Platz für sie offen und ist ganz selig in der Hoffnung unter Ihre Sorge(???) zu kommen. Ihr Repertoire ist: Romeo, die Oberpriesterin in der Vestalin, Sextus6, Fatime im Oberon, Benjamin in Joseph in Egypten, Annchen im Freischütz, die Pagen in Johann von Paris u Figaro7. Vor allem aber wünscht sie Amazili in Jessonda zu singen. – Möchte der jetzige Stand der Casseler Bühne ihr Hoffnung geben und vor Allem Sie selbst geniegt seyn ihren Wunsch zu erfüllen. Ist es möglich daß Sie, innig verehrter Freund, mir einige Zeilen Antwort zukommen lassen, so werden Sie beglücken Ihren Ihnen auf immerdar ergebenen

Freund und Diener
Lecerf

Berlin
d. 17ten März
1841.



Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Lecerf an Spohr, 13.09.1841.

[1] „Schließt man den Brief Jemanden zur Uebergabe bei, so schreibt man auf die Adresse: ,Durch Inlage‘ – ,durch Beischluß‘ – ,durch Einschluß‘ – ,durch Güte‘ oft auch abgekürzt nur die Anfangsbuchstaben: d. I. – d. B. – pr. E. – d. G. –“ (Neuester und vollständigster deutscher Universal-Muster-Briefsteller, sowie österreichischer Privat-Geschäfts-Secretär, welcher alle im bürgerlichen Leben vorkommenden schriftlichen Aufsätze zu verfassen lehrt, Bd. 1, o.O. [1842], S. 124).

[2] „Juli“ über einem gestrichenen Wort eingefügt.

[3] „[Fräulein Julie Harting]“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 42 (1840), Sp. 645.

[4] „Mezzosopran“ über der Zeile eingefügt.

[5] „überhaupt“ über der Zeile eingefügt.

[6] Rolle in La clemenza di Tito von Wolfgang Amadeus Mozart.

[7] „die Pagen in Johann von Paris u Figaro“ über der Zeile eingefügt.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (07.12.2022).