Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Wohlgeborner,
hochzuverehrender Herr Kapellmeister!

Es hat sich in unserem musikalischen Kränzchen wieder ein kleiner Zwist erhoben, zu dessen Entscheidung ich um Ihr Urtheil bitte. Sie haben es allein Ihrer allgemein geltenden Autorität und Ihren competenten Stimmen zuzuschreiben, wenn Sie auch von uns Hersfeldern bisweilen mit Bitten belästigt werden; indeß bitte ich zum Voraus um Verzeihung. Der Streitpunct ist folgender. H. Musiklehrer Rundnagel hat schon öfter und auch diese Woche wieder mit aller Schärfe behauptet, daß die Bezeichnungso vorgetragen werden müßte als wenn da stünde. Er behauptet, es würde dies in allen Musikschulen so gelehrt. Selbst zugegeben, daß ein einzelner Fall eintreten könnte, in welchem diese Regel gälte, so kann ich mich doch von der durchgängigen Allgemeinheit des Satzes bis diesen Augenblick noch nicht überzeugen. Denn andere Gründe zu geschweigen, warum schrieben die Componisten, wenn der aufgestellte Satz wahr wäre,oder selbst, wennschon an und für sich so wie die letzte Bezeichnung vorgetragen werden müßte? Es wäre wenigstens mir unverzeihliche orthographische Inconsequenz, die dem Naturgesetz der Einfachheit ganz widerspräche. Zweitens, wenn der behauptete Satz wahr wäre, wie würde dieser Vortrag im getragenen ganz langsamen tempo, als Largo, Adagio, Andante sich ausnehmen, wo eine fast fortdauernde Pause entstehen würde, indem ein Zeittheil ausgefüllt, und 3 Zeittheile pausirt würden. Die Stelle, welche diese Woche den Zwist wieder hervorrief, war in einem Chore, wo der Sopran in Andante Tempo so zu singen hatte. H. Rundnagel behauptete consequent(?), daß Athem geholt werden müßte zwischen beiden Noten. Ich könnte noch manche andern Gründe aufzählen, die mir es höchst unwahrscheinlich machen, daß seine Regel gelten könne. Haben Sie die Güte, Herr Kapellmeister, mir zu sagen, wie es sich mit einer solchen Vorschrift, wenn sie wirklich aufgestellt wird, verhält. Gilt sie für jede Art von Tempo, gilt sie für jedes Instrument auf gleiche Weise, gilt sie für Gesang? Es tritt Einem im Leben oft Etwas entgegen, was im ersten Augenblick sehr sonderbar erscheint, hinter dem aber doch Etwas verborgen steckt; so bin auch ich in diesem Falle sehr gespannt, zu hören, wie sich die Sache verhält. – Sodann erlaube ich mir noch einige Anfragen. Die b Tonarten haben im Ganzen eine tiefere Schwebung(?) als die # Tonarten; muß demnach nicht aus diesen und andern Gründen z.B. bei folgender und ähnlichen Verwandlungen ungeachtet der Bindung bei der 2ten Note ein andrer Finger bei den Saiteninstrumenten gebraucht werden oder kann auch der vorige Finger der Bequemlichkeit und reinen Intonation wegen liegen bleiben? Ueberhaupt ist es ein wesentlicher characteristischer Unterschied, ob eine Tonart mit ## oder aber bb bezeichnet ist oder nicht? Das Clavier läßt freilich diesen Unterschied nicht hervortreten und eben so wenig darf es geschehen, wenn man mit Begleitung des Claviers spielt, damit keine Disharmonie entsteht. – Endlich habe ich noch einen Zweifel. In einem Ihrer Quintette Ouev. 33 Nr. 1. findet sich in dem Trio des Menuetto folgende Stelle:

Soll nicht aber sul A einen Tact früher stehen? Da diese sowie die vorhergehende Stelle

wegen der reinen Intonation Schwierigkeiten hat, so würden Sie mich sehr verbinden, wenn Sie mir die Fingersetzung mit Zahlen anmerkten.
Nochmals bitte ich sehr um Verzeihung, daß ich Ihnen, hochgeehrtester Herr Kapellmeister, auf so mannigfaltige Weise beschwerlich bin; aber Sie würden mir gewiß meine Bitten nicht übel nehmen, wenn Sie wüßten, wie beunruhigend, ja beängstigend Zweifel für mich sind, die mir in Kunst oder Wissenschaft aufstoßen. Sollten Sie daher einmal in einer freien halben Stunde mir in wenigen Worten Auskunft geben wollen, so würden Sie mich zu großem Danke verpflichten. Mit größter Achtung habe ich die Ehre, mich zu unterzeichnen als

Ew. Wohlgeboren
ganz ergebenster Wiskemann.

Hersfeld, d. 24sten
Januar 1841.

Autor(en): Wiskemann, Heinrich
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Rundnagel, Ferdinand
Erwähnte Kompositionen: Spohr, Louis : Quintette, Vl 1 2 Va 1 2 Vc, op. 33.1
Erwähnte Orte: Hersfeld
Erwähnte Institutionen:
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1841012247

Spohr



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Wiskemann an Spohr, 22.09.1837. Spohr beantwortete diesen Brief am 28.01.1841.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Wolfram Boder (05.02.2018).