Autograf: Bodleian Library Oxford (GB-Ob), Sign. GB 13: 19
Druck: John Michael Cooper und R. Larry Todd, „'With True Esteem and Friendship'. The Correspondence of Felix Mendelssohn Bartholdy and Louis Spohr“, in: Journal of Musicological Research 29 (2010), S. 171-259, hier S. 244ff.; englische Übersetzung S. 203ff.

Sr. Wohlgeb.
dem Herrn Musikdirector
Mendelssohn Bartholdy
in
Leipzig.

franco.1


Cassel den 16ten Januar
1841.

Hochgeehrtester Herr u. Freund,

Ihr lieber Brief ist mir, meiner Frau und Herrn Hauptmann, dem ich ihn mittheilte, vom höchsten Interesse gewesen und ich kann dem Drange nicht widerstehen, einige Zeilen darauf zu erwiedern.
Daß Ihnen, dem Glanzpunkt der allerneuesten Musikperiode, der sie in meinen Augen allein bey Ehren erhält und noch zu größern Ehren bringen wird, der letzte Satz meiner Sinfonie, als Abbild dieser Periode, nicht genügen würde, konnte ich mir im voraus denken. Aufrichtig gestanden, als 4ter d. S.2, als Schlußstein des Ganzen, für welchen das Beste aufgespart seyn sollte, genügt er mir auch nicht; allein die Aufgabe, die ich mir gestellt hatte, ließ doch nicht zu, daß ich ihn anders hatte machen können.
Ihr Verlangen, daß ich in diesem letzten Satz mich selbst hätte geben sollen, war nicht ausführbar, denn 1.) bedingt die Aufgabe, daß ich meine Eigenthümlichkeit möglichst verbarg, 2.) wäre es unbescheiden gewesen, mich als Repräsentant irgend einer Periode hinstellen zu wollen und 3.) gehöre ich nicht der neuesten, sondern, meiner Kunstbildung und der Zeit nach, den bedyen vorhergehenden Perioden an. – Hätte ich mir das Talent zutrauen dürfen, das Eigenthümliche und Phantastische Ihrer Instrumentalkompositionen, besonders Ihrer, von mir sehr geliebten Ouverturen nachahmen zu können, so würde die allerneueste Periode freilich würdiger dargestellt worden seyn. So mußte ich mich aber begnügen, sie auf eine Weise zu charakterisiren, die jedermann leicht kenntlich ist, nämlich durch Anhäufung materieller Efektmittel, wilde, kurze Rhythmen, Modulationen wie mit der Thür ins Haus und dergl. mehr, und so glaube ich die Weise der Herren des Tages jenseit des Rheins nicht übel copirt zu haben; ja, der Satz enthält in dem modulatorischen Spiel mit den beyden Themen in der Mitte desselben sogar eine Andeutung der nebelhaften und formlosen Romantik der allerneuesten Schule. – Wollen Sie den Satz so betrachten, so werden Sie sich vieleicht mit ihm aussöhnen. Vieleicht geschieht es Ihnen dann3 aber wie einigen englischen Kunstrichtern, daß Sie4 ihn für Ironie nehmen, was ich mir freilich muß gefallen lassen.
Zum Schluß meinen, herzlichen Dank, daß Sie sich mit dem Werke so viele Mühe gegeben und es so sorgfältig eingeübt haben. Ich suche dies nach besten Kräften mit Ihren Sachen hier zu erwiedern, wozu ich im nächsten Concert schon wieder Gelegenheit finde indem wir zum 1sten Mal Ihre Ouverture „Meeresstille und glückliche Fahrt“ geben.
Daß Sie das Preisrichteramt5 abgelehnt haben, nimmt mich nicht wunder. Es ist ein unangenehmes Geschäft und hat mir schon mehre Male eine ganze Reihe von Tagen verdorben.
Mit der Bitte mich Ihrer Fr. Gemahlin zu empfehlen, von ganzem Herzen
der Ihrige
Louis Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf Mendelssohn an Spohr, 08.01.1841. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Mendelssohn, 11.03.1842.

[1] Rechts oben auf dem Adressfeld befindet sich der Poststempel „CASSEL / 16 / 1 / 1841“, rechts unter dem Adressfeld der Stempel „St. Post / 18 JAN / V. 3--5“.

[2] „d. S.“ = Abk. f. „dieser Sinfonie“.

[3] Hier gestrichen: „auch“.

[4] „Sie“ über der Zeile eingefügt.

[5] Des Preisausschreibens des Deutschen Nationalvereins für Musik und ihre Wissenschaft. Zu Mendelssohns Absage vgl. auch [Gustav Schilling], „Referat über den Preisconcours von 1840“, in: Jahrbücher des Deutschen Nationalvereins für Musik und ihre Wissenschaft 3 (1841), S. 73f., hier S. 74.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (26.06.2020).