Autograf: Bodleian Library Oxford (GB-Ob), Sign. MS Margaret Deneke Mendelssohn c. 42, f. 25-26
Autografer Entwurf: Bodleian Library Oxford (GB-Ob), Sign. MS Margaret Deneke Mendelssohn d. 40/272a
Abschrift: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohnarchiv (D-B), Sign. MA Nachl. 7,64/1,12
Druck 1: Thomas Christian Schmidt, Die ästhetischen Grundlagen der Instrumentalmusik Felix Mendelssohn-Bartholdys, Stuttgart 1996, S. 132 (teilweise)
Druck 2: John Michael Cooper und R. Larry Todd, „'With True Esteem and Friendship'. The Correspondence of Felix Mendelssohn Bartholdy and Louis Spohr“, in: Journal of Musicological Research 29 (2010), S. 171-259, hier S. 242ff.; englische Übersetzung S. 202ff.
Druck 3: Felix Mendelssohn Bartholdy, Sämtliche Briefe, Bd. 7, hrsg. v. Lucian Schiewietz und Ingrid Jach unter Mitarb. v. Benedikt Leßmann und Wolfgang Seifert, Kassel u.a. 2013, S. 402ff. (Autograph) und S. 720f. (Entwurf)
[Beleg: Autographen-Sammlung enthaltend Musiker-Briefe und Musik-Manuskripte aus dem Nachlasse des berühmten Komponisten Louis Spohr (1784-1859) nebst Beiträgen allerArt (Fürsten,Staatsmänner, Dichter, Gelehrte, Künstler, etc.) aus dem Besitz eines bekannten Berliner Sammlers. Versteigerung zu Berlin Montag, den 15. und Dienstag, den 16. Oktober 1894 (= Katalog Liepmannssohn), Berlin 1894, S. 57]
Herrn
Herrn Kapellmeister Dr. Louis Spohr.
Wohlgeb.
in
Cassel.
frei.1
Leipzig d. 8ten Jan. 1841.
Hochgeehrter Herr Kapellmeister
Verzeihen Sie, das ich bis jetzt verschoben habe Ihnen für die gütige Übersendung Ihrer historischen Symphonie zu danken; ich wollte deren Aufführung abwarten, die erst gestern Statt finden konnte2, daher die späte Erwiederung Ihrer so freundlichen lieben Briefe. Vor allen Dingen empfangen Sie nicht blos meinen herzlichen Dank, sondern auch zugleich den der hiesigen Concert-Direction, und aller Musikfreunde, die jedem Ihrer neuen Werke mit wahrhafter Freude und Spannung entgegensehn, Ihnen also doppelt3 erkenntlich sind, das Sie uns abermals Gelegenheit verschafften eine Ihrer Symphonieen noch vor dem öffentlichen Erscheinen kennen zu lernen, und unter den Ersten sein zu dürfen, die sie in Deutschland aufführen. Es war natürlich, daß es sich alle Musiker angelegen sein ließen, nach ihren besten Kräften zu einer gelungnen
Ausführung beizutragen; auch hatten wir zwei lange Proben davon, deren eine ausschließlich der Symphonie gewidmet war, so das wir das Scherzo und Finale jedes 5 mal ganz durchspielten, einzelne Repetitionen abgerechnet. Dennoch befriedigte mich die Ausführung nicht in allen Details so wie ich es wohl gewünscht hatte. Besonders die beiden Stellen in der Flöte, und nachher in der
Clarinette, wo sie im letzten Satz zum Mittelgedanken überleiten4, gelangen in der Probe immer besser als in der Aufführung, wo die ganze Parthie einen Anstrich von Ängstlichkeit bekam, den ich gerade hatte vermeiden wollen. Im Ganzen und für ein erstes Mal glaube ich doch, das Sie mit dem Orchester zufrieden gewesen wären; wenigstens fiel sonst kein Fehler vor, und der junge
Horsley, der das Werk mehrmals unter Ihrer Direction gehört hat, versicherte mir auch, das ich die Tempi in Ihrem Sinn und richtig getroffen hatte. So haben Sie denn nochmals den besten Dank, und erfreuen Sie uns bald wieder durch etwas Neues von Ihrer Hand; Sie wissen das jedes Ihrer Werke nicht blos uns ein persönliches Vergnügen, sondern unserm ganzen Institute einen wahren
Nutzen, einen lebendigen Aufschwung verschafft.
Sie sind so gütig mich nach dem Eindruck zu fragen, den die historische Symphonie auf mich persönlich machte. Ich weiß die hohe Ehre, die Sie mir dadurch erzeigen, zu sehr zu würdigen, als daß ich einem5 von mir so herzlich verehrten Meister gegenüber, nur allgemeine Worte der Bewunderung darauf erwiederte, nur von dem vielen Vortrefflichen, Nachahmungswerthen spräche, das in jedem Ihrer grosen Werke gleich hervortritt, und nicht auch eines Puncts
erwähnte, in den ich mich noch nicht ganz habe hineinfinden können. Mir ist nämlich im letzten Stück immer zu Muth geworden als wäre die neuere Zeit, eben gerade6 weil Sie sie in Musikausdrücken anders und großartiger hinzustellen gewesen; ich dachte es würde dem Ganzen dadurch die Krone aufgesetzt werden, wenn nach den drei ersten in verschiedenem Styl einfachen Sätzen, nun ein letzter recht nach Ihrem eignen Sinn durchgeführt, recht ernsthaft und vielsagend käme, der7 in sich selbst die Hauptgedanken der Symphonie ausspräche.
Sie werden darauf entgegnen, daß dergleichen eben kein Andrer in der neueren Zeit machen kann, das eben die leichte, pikante Manier der Anderen im letzten Satz dargestellt sei; – aber daß Sie sich selbst und das was Sie uns geben und für gut halten, vom letzten Satz fern halten, und nicht vielmehr vor Allem darin repräsentiren wollen, damit habe ich mich nicht recht versöhnen
können; denn sogar für die Hauptwirkung des Ganzen wurde mir ein größeres Instrumentalstück in freierer Form, etwa wie die Ouvertüre aus Faust oder so viele Ihrer herrlichen, schwungvollen Ouvertüren, an dieser Stelle mehr zusagen, als die leichten, fröhlichen Rythmen, die mich nicht beruhigen, und mich nicht zum Schluß auf sichern, festen Grund und Boden stellen. Verzeihen Sie
mir ja, hochgeehrter Herr Kapellmeister, und halten Sie mich nicht für unbescheiden, daß ich Ihnen gegenüber mir solche Freiheit nehme; ich sage alles das nur heraus, um ganz aufrichtig gewesen zu sein, obwohl ich gewiß glaube, daß meine Meinung sich noch ändern wird, und das ich vielleicht nach genaueer8 Bekanntschaft und öfterem Hören Ihres Werks von selbst einsehn werde, daß ich mich geirrt.
Noch muss ich Sie hinsichtlich der mir zugeschickten ClavierSonaten um Entschuldigung bitten, ich habe nämlich das Preisrichter Amt9 nicht annehmen können, und das Paket daher uneröffnet an Herrn K.M.10 Reissiger geschickt.11
Das ich gerade von Ihnen die Sachen empfing, machte mirs schwerer als sonst, der zugedachten Ehre zu entsagen, und ich fürchtete fast, Sie würden mir es übel nehm[en]; aber weil ich weiß, wie lange es bei mir dauert bis ich uber e[in] neues Stück nur für mich zu einem klaren Bewußtsein gelange, geschweige denn so viele verschiedene gegen einander abzuwägen vermag, welche verdrießliche Stunden es mir jedesmal gemacht hat, wenn ich zu einer Entscheidung gern kommen wollte, und doch immer fürchtete ein Unrecht zu begehen, das für mich und Andre gleich schmerzlich sein mußte – so habe ich den festen Vorsatz gefast niemals wieder ein musikalisches Preisrichteramt zu ubernehmen, konnte daher auch diesmal keine Ausnahme machen, und hoffe vor Allem, das Sie mir aus diesen Gründen verzeihen werden. Würde mirs nur ein wenig leichter,
so thäte ichs gern; aber eben da es mir so schwer fällt, und ich mich auch nicht entschließen kann, es weniger schwer zu nehmen, so laß ichs lieber ganz.12 Ihren Brief mit dem Paket erhielt ich wenig Stunden nach der Anzeige, die mir Dr. Schilling von meiner Erwählung zu diesem Amt machte, sonst hätte ich Ihnen gleich darüber geschrieben, und um Entschuldigung gebeten.
Wie freue ich mich nun auf Ihr neues Oratorium13, von dem mir Horsley manches hat erzählen müssen. Wäre mirs nur vergönnt, am Charfreitag zuzuhören, oder es wenigstens wie das vorige am Clavier mit Ihnen durchzuspielen und zu singen!14 Aber ich weiß nicht, ob15 mir eine solche Freude bald bevorsteht, denn ich fange an nicht mehr so leicht mobil zu sein, wie sonst; die Frau und die Kinder, die man16 nicht leicht immer mitnehmen, und noch viel weniger leicht zu Haus lassen kann und mag, bilden nach und nach einen Hemmschuh am Reisewagen. Freilich ists einem dann aber auch zu Haus so wohl, wie sonst auf der schönsten Fahrt, und daß ich doch einmal über kurz oder lang wieder bei Ihnen vorsprechen kann, hoffe ich gewiß.
Mit der Bitte mich Ihrer verehrten Frau Gemahlinn und Hauptmann sehr vielmal zu empfehlen bin ich stets Ihr wahrhaft ergebner
Felix Mendelssohn Bartholdy.
Autor(en): | Mendelssohn Bartholdy, Felix |
Adressat(en): | Spohr, Louis |
Erwähnte Personen: | Hauptmann, Moritz Horsley, Charles Edward Reissiger, Carl Gottlieb Schilling, Gustav |
Erwähnte Kompositionen: | Spohr, Louis : Der Fall Babylons Spohr, Louis : Historische Sinfonie, op. 116 |
Erwähnte Orte: | Leipzig |
Erwähnte Institutionen: | Deutscher Nationalverein für Musik und ihre Wisenschaft <Stuttgart> Gewandhaus <Leipzig> |
Zitierlink: | www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1841010841 |
Dieser Brief ist die Antwort auf Spohr an Mendelssohn, 21.11.1840 und 25.12.1840. Spohr beantwortete diesen Brief am 16.01.1841.
[1] Auf dem Adressfeld befindet sich noch der Poststempel „[L]EI[P]Z[IG] / 11 Jan [41]“ und auf der anderen Seite des zusammengefalteten Umschlags „14 JAN [41]“.
[2] Zum Konzert am 07.01.1841 vgl. „Leipzig, den 10. Januar 1840[sic!]“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 43 (1841), Sp. 61-68, hier Sp. 63-68; 13. [= Robert Schumann], „Elftes Abonnementconcert, den 7. Januar 1841“, in: Neue Zeitschrift für Musik 14 (1841), S. 53f.
[3] Hier ein Wort gestrichen.
[4] Vgl. Louis Spohr, Historische Symphonie im Styl und Geschmack vier verschiedener Zeitabschnitte, Wien 1842, hier vermutlich S. 76f.
[5] Hier gestrichen: „so“.
[6] Hier ein Wort gestrichen („durch“?).
[7] Hier gestrichen: „[???] frühern(?) Satze“.
[8] Sic!
[9] Des Preisausschreibens des Deutschen Nationalvereins für Musik und ihre Wissenschaft (vgl. [Gustav Schilling], „Zweite Preisaufgabe des Vereins“, in: Jahrbücher des Deutschen Nationalvereins für Musik und ihre Wissenschaft 2 (1840), S. 161).
[10] „K. M.“ = Abk. f. „Kapellmeister“.
[11] Vgl. Mendelssohn an Gustav Schilling, 13.12.1840, in: Felix Mendelssohn Bartholdy, Sämtliche Briefe, Bd. 7, hrsg. v. Lucian Schiewietz und Ingrid Jach unter Mitarb. v. Benedikt Leßmann und Wolfgang Seifert, Kassel u.a. 2013, S. 367.
[12] Hier gestrichen: „Ich“.
[13] Der Fall Babylons.
[14] Zum Besuch Mendelssohns bei Spohr am 06.10.1834 vgl. „Jetzt habe ich eben mit Spohr ein halbes neues Oratorium von ihm durchgespielt, und wir haben dazu gesungen, daß es eine Stein erbarmen sollte [...]“ (Mendelssohn an seine Familie, 06.10.1834, in: Felix Mendelssohn Bartholdy, Sämtliche Briefe, Bd. 4, hrsg. v. Lucian Schiewietz und Sebastian Schmideler, Kassel u.a. 2011, S. 66f.); „[…] und dann machte mich Spohr befangen; er hatte mir den Morgen sein neues Oratorium vorgesungen, ohne daß mir warm dabey geworden wäre, und da denk ich immter, es müßte ihm bey meinen Sachen noch schlimmer gehen, sie müßten ihm mißfalln.“ (Mendelssohn an Franz Hauser, 01.11.1834, in: ebd., S. 78-81, hier S. 80).
[15] Hier gestrichen: „ich“.
[16] „man“ über gestrichenem „ich“ eingefügt.
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (26.06.2020).