Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Catlenburg am 20ten December 1840.

Erlauben Sie, mein innigst verehrtester Gönner! meiner Frau, Ihnen wie Ihrer so herzlich verehrten theuren Frau Gemahlinn den besten Apetit für die beygehenden Würstel wünschen zu dürfen, dem ich mich denn besonders auch mit dem herzlichen Wunsche anschließe, daß Ihre gnädige Frau Gemahlinn die Äußerungen, welche damahls das Cäcilien-Fest in Voraussicht stellte, nur Erheiterung, und Hochgenuß Ihres neuen Meisterwerkes, und überall keine lästigen Folgen der unfehlbaren kleinen Erschöpfung brachten! –
Je größer der Genuß war, den Jessonda und die historische Symphonie gewährten, desto lebhafter war auch am 23t Abends die Sehnsucht, zu Ihrem Cäcilien-Feste1 fliegen zu können! – Kaum durch die Hoffnung zu beruhigen dieses neue Werk in seiner ganzen Glorie in der Oster-Woche zu hören. –
Heute habe ich Ihnen nun Bericht eines gar eigenthümlichen Tonwerks zu erstatten! – Wir waren Gestern Abend zu einem Pastoral-Concerte der in den Zeitungen viel besprochenen Gebirgs-Sänger der Pyrenäen in Osterode! weniger in Hoffnung eigentlichen musicalischen Genußes, als das Interesse einer solchen Repräsentation der Pyrenäen-Nationalität verfolgend; und allerdings gewähren denn auch diese, zum besten ihrer heimathlichen Kinder- und Greisen-Ayle durchwandernden 40 Gebirgs-Kinder, welche von dem Alter von pp[???] 40 bis zu 5 Jahren herunter wie die Orgel-Pfeifen sich an einander reihen, eine mannigfach interessante Erscheinung!
Die Disciplin ihrer ganzen Reise-Lebensweise ist eine militairische2 u so unverständlich das Pyrenäen-P[???] ist, was sie unter einander sprechen, so fein u gewandt drücken gleichwohl alle die, welche von diesen reisenden Hirten-Söhnen ich zu sprechen Gelegenheit hatte, in bestem Französisch sich aus. Ihre Gesänge sind meistens dem Enthusiasmus für ihre Berge zugewendet; – in hohem Maaße ungebunden, so wohl hinsichtlich der Tempi- als der Tact-Verwechselungen; u dennoch so präcis, daß man den Schwung des auf das genaueste zusammen haltenden Rhythmus in keinem Momente entbehrt. Ferner habe ich, – einige nicht ganz richtige Schwingungen der Knaben-Stimmen gleich im Einsatze des aller ersten Werkes abgerechnet, – den ganzen Abend hindurch keinen falschen Ton wieder bemerkt; u besonders die vorschreitend ausfallenden Schluß-Accorde, bey denen auch der tiefste Contra-Bass nicht fehlt, sind von einer so wohlthuenden Reinheit, wie man sie selbst3 von Instrumenten selten hört.
Auch die Compositionen ihrer Lieder, – wie die ungemein hübsche Dichtung von dem Director derselben, Mr Rolland, – ist unter steter Beybehaltung ihrer nationalen Richtung, nicht ohne Verdienst; – die begleitenden Stimmen um vieles selbstständiger u in gar manchen anderen prätensionsvolleren4 Compositionen; – der Gang der Melodien meistens an den Catholischen Choral erinnernd; – aber doch hie u da auch, rein musicalisch genommen, Comische Gedanken. – Der die meistens Recitativ-artigen Solo-Parthien vortragende u sehr deutlich aussprechende Baritonist hat die stärkste Stimme, die ich in meinem Leben gehört habe; – sie würde bey vielem u sehr reinem Klang selbst schön seyn, wenn sie sich in einem weniger schneidendem Fortissimo hielte; was indessen, nach Ueberstehung der ersten Momente, weniger lästig wird, durch die ebenfalls stets glockenreine Intonation; – einzelne auch bey diesem Hirten-Sänger anzutreffende u absichtlich scheinende, Momente abgerechnet! – – Die Präcision des Chor-Einfallens, vielleicht selbst nur einzelne Ausrufungen, ist dabey, in Anbetracht des Kinder-Personals, wahrhaft bewundernswerth5; – u das Ganze etwas so ungewöhnliches, daß wir doch auch das zum 27ten in Osterode, u zum 28t in Northeim auf der Rückreise von ihrer HarzTournée angekündigte Choral-Conzert in der Kirche an dem einen oder anderen der beyden Orte noch ein Mahl berühren werde. –
Nach ihrem Reise-Regim(???) verbrauchen diese Hirten-Söhne, in steter Berücksichtigung ihres Wohlthätigkeits-Zweckes, täglich pro Kopf nur 10 bis 12 gr. und das Logis! – Die Erwachsenen marschieren täglich ihre 3-4 Meilen zu Fuß, so eingetheilt, daß sie jeden Abend um 7 Uhr allda Concert geben, wo sie Nachmittags erst eintreffen; u mit Tages-Anbruch wieder weiter marschieren; – einige Quartiermacher sind immer um ein Paar Tage voraus, um die Arrangements für die Soirées pp zu treffen; daher ersterhin(???) singend 35 Personen von den 40 reisenden beyeinander waren, u zu seyn pflegen pp – auch der kleinen u größeren Knaben. –
Wenn sie etwa auch dorthin kommen, werden nach dem alle Ihre musikalischen Freunde nicht bereuen, der eigenthümlichen u wirklich nationallen Erscheinung einen Abend zu widmen, – deren Wohlthätigkeits-Zweck allerdings zugleich die ihm gegebene Anzeichnung des „Classischen“ in mehrfacher Anziehung zu verdienen scheint.6
Doch – verzeihen Sie die etwas all’ zu ausführlich gewordenen Relationen!! –
Mit unseren herzlichsten Grüßen und besten Wünschen auf das innigste u stets dankbarste

Ihr wärmster Verehrer
CFLueder.

Autor(en): Lueder, Christian Friedrich
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Roland, Alfred
Erwähnte Kompositionen: Spohr, Louis : Der Fall Babylons
Spohr, Louis : Historische Sinfonie, op. 116
Spohr, Louis : Jessonda
Erwähnte Orte: Kassel
Northeim
Osterode
Erwähnte Institutionen: Cäcilienverein <Kassel>
Pyrenäische Sänger
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1840122035

Spohr



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Lueder an Spohr, 14.11.1840. Der nächste erschlossene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Lueder, 21.02.1841.

[1] Mit einer Vor-Aufführung mit Klavier von Spohrs neuem Oratorium Der Fall Babylons.

[2] vgl. „Genug, die vierzig Männer und Kinder zogen, alle in blauer Blouse, rothen Binden und weissen Pantalons unter Vortragung der heiligen Fahne […] paarweis mit militärischem Schritt und Haltung über die Bühne und stellten sich in einem Halbkreis um die heilige Fahne […]“ (K[arl] B[orromäus] von Miltitz, „Die pyrenäischen Gebirgssänger”, in: Allgemeine musikalische Zeitung 43 (1841), Sp. 281).

[3] „selbst“ über der Zeile eingefügt.

[4]Praetension, die Anforderung, Anmaßung, der Anspruch“ (Friedrich Erdmann Petri, Gedrängtes Deutschungs-Wörtebuch der unsre Schrift- und Umgangs-Sprache, selten oder öfter entstellenden fremden Ausdrücke, zu deren Verstehn und Vermeiden, 3. Aufl., Dresden 1817, S. 370).

[5] Zum Aufbau der Nummern vgl. „Linz“, in: Wiener allgemeine Musik-Zeitung (1841), S. 3f.

[6] Die Sänger gastierten im Januar in Kassel, wo Spohr Ihnen auch ein Zeugnis ausstellte.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (27.01.2021).