Autograf: Spohr Museum Kassel (D-Ksp), Sign. Sp. ep. 1.1 <18401024>
Beleg: Autographen. Historische Autographen, literarische Autographen, Musiker, Schauspieler und bildende Künstler, Stammbücher. Versteigerung am 20., 21. und 22. Oktober 1926 (= Katalog Liepmannssohn 48), Berlin 1926, S. 174f.

Sr. Wohlgeb
dem Herrn Oberorganist
Adolph Hesse
in
Breslau
 
franco0
 
 
Cassel den 24sten
October 1840.
 
Geehrtester Herr u Freund,
 
Die Partitur meiner 3ten Sinfonie besitze ich leider nicht, da sie der Verleger, Schlesinger in Berlin zurückbehalten hat. Ich habe sie hier nach dem 4händigen Clavierauszug dirigirt, was anging, da ich mich der Eintritte der vorgeschriebenen Instrumente nach und nach wieder erinnerte: Einer, dem Sie aber unbekannt ist, würde nach dem Clavierauszuge keine Controlle der genauen Eintritte fühlen können. Sie könnten Sie aber vielleicht von Schlesinger geliehen bekommen?
Ich hätte Ihnen schon längst einmal geschrieben, wenn es nicht ganz an Stoff gefehlt hätte. Auch jetzt fehlt es noch daran, wenigstens an interessanten musikalischen. Wir haben bey mir und bey Fr. v. Malsburg einige Male musizirt, was durch die Anwesenheit eines musikalischen Engländers1, den wir in London hatten kennen lernen, veranlasst wurde. Es wurden einige neue hübsche Lieder von Bähr und Hauptmann producirt und ich spielte mit meiner Frau die 3t Sonate. – Quartettmusik hat noch nicht wieder seyn können, weil Hasemann fortwährend kränklich ist und selbst nur selten Orchesterdienst thun kann. Ich fürchte, er wird nicht lange mehr leben.2 – Mit der Rückkehr von der Lübecker Reise habe ich Freitag am 2ten Theil des neuen Oratoriums3 gearbeitet. Im Clavierauszug ist bis auf die Ouverture nun alles fertig. Die Instrumentierung ist bis zu drei Viertel des Ganzen gediehen. In 3-4 Wochen hoffe ich mit allem fertig zu seyn. Diese Arbeit hat mir großen Genuß gewährt, weil meine Frau so innigen Antheil daran nahm und ich, je weiter hierin, immer mehr Begeisterung dafür gewann! Ich habe aber auch die Überzeugung, daß es, wenigstens in der 2ten Hälfte meine beste Arbeit ist. Wir haben bereits beyde Theile im Cäcilienverein eingeübt und werden am 22t November (, dem Cäcilientage, ) eine Production am Piano veranstalten. Die erste öffentliche Aufführung wird dann am Charfreitag seyn. Dies habe ich nun [mit] dem Festcomitée in Norwich ausgemacht, da ich ohnmöglich bis zum Herbst 1842 warten könnte, um das Werk zum ersten Mal zu hören. Nach unserer Charfreitagsaufführung ist es aber dann Eigenthum des dortigen Comitées und darf von mir erst nach der dortigen Aufführung publicirt werden. Es wird dann gleichzeitig hier und in England, dort mit englischem Text erscheinen.
Für Ihr freundliches Anerbeiten den besten Dank.4 Wir können für diesen Winter aber keinen Gebrauch davon machen, da wir für unsere 4 Abonnementsconcerte bereits 4 Sinfonien angekündigt haben, nämlich meine Historische, eine neue vom Hofkapellmeister Müller in Rudolstadt, eine von Berlioz, die wir von Braunschweig geliehen bekommen, und die 9te von Beethoven.5 – Vor einigen Tagen brachte mir der Redacteur6 der Breslauer Zeitung Grüße von Ihnen. Er hat mir manches interessante von Breslau erzählt. – Leben Sie wohl. Herzliche Grüße von allen Ihren hiesigen Bekannten.
Mit wahrer Freundschaft stets Ihr Louis Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf Hesse an Spohr, 19.10.1840. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Hesse an Spohr, 19.05.1841.
 
[0] [Ergänzung 07.12.2021:] Auf dem Adressfeld befindet sich rechts oben der Poststempel „CASSEL / 25/ 10 / 1840“, rechts unter dem Adressfeld befindet sich die Stempel „N / 29 / 10 / 2“ und „N / 29 / 10 / 1“.
 
[1] Noch nicht ermittelt.
 
[2] Hasemann wurde am 04.02.1842 beerdigt (vgl. „In Cassel”, in: Neue Zeitschrift für Musik 9 (1842), S. 72).
 
[3] Der Fall Babylons.
 
[4] Im Vorbrief bot Hesse seine 4. Sinfonie op. 55 zur Aufführung für Kassel an.
 
[5] Während im ersten und zweiten Abonnementkonzert tatsächlich die Sinfonien von Spohr und Müller gespielt wurden, erklang im dritten Konzert statt einer Sinfonie von Berlioz eine Sinfonie von Thomas Täglichsbeck, im vierten Konzert statt der 9. die 7. Sinfonie von Beethoven (vgl. „Kassel, im Juli 1841”, in: Allgemeine musikalische Zeitung 43 (1841), Sp. 594-600 und 614ff., hier Sp. 597f.; zu den Beethoven-Sinfonien auch Spohr an Hesse, 9. Juni 1841). Welche Sinfonie von Berlioz Spohr aufführen wollte, lässt sich mit den derzeit erschlossenen Quellen noch nicht ermitteln.
 
[6] Eugen von Vaerst.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (28.04.2015).