Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Wohlgeborner,
Höchgeehrtester Herr!

Noch nie war ich beim Schreiben eines Briefes über das zu Sagende zu unschlüßig als jetzt, weil cih die Unfähigkeit fühle, Ihnen durch Worte, das was ich wünsche auszudrücken. – Der, meinem Freunde Hesse ausgesprochene Wunsch: ein Stückchen Papier, worauf Sie Ihren Namen oder ein Paar Noten geschrieben zu besitzen, ist von Ihnen auf eine Weise erfüllt, die mich beschämt und beinahe drückt, weil ich durchaus nichts gethan, wodurch ich diese Güte verdient.1 Doch, herzlichen Dank und dann die Bitte, mir Gelegenheit zu geben Ihnen zu beweisen, wie aufrichtig dieser gemeint ist.
Wie sehr ich Ihre Werke verehre, davon mag Hesse Ihnen vielleicht gesagt haben. Wie ich indeßen dazu kam, halte ich für Schuldigkeit Ihnen so kurz als möglich auseinander zu setzen.
Von meinem alten jetzt 76 jährigen Vater, von 6 Jahre an unterrichtet, nach den Grundsätzen und Ansichten seiner Lehrer, konnte ich bis zu meinem 15 Jahre nur Compositionen von Knecht, Kittel und – Haydn. (Von Mozart garnichts) Knecht und Kittel waren Lieblinge meines Vater’s und so war mein Musiktreiben nun eben ein tödtendes Üben, welches geistig abstumpfen mußte. Nach längt gehegten Wunsch meiner Eltern kam ich im 15 Jahr 1829 am Comptoir eines Kaufmannes nach Rostock. Jetzt ging mir ein neues Leben auf. Mein Principal war Musikfreund, deßen Familie eben geschickte Dilettanten. Hiezu kamen die Musik Aufführungen des Stadt Musikus Weber und so wird es Sie nicht verwundern, wenn ich mich den neuen Genüßen bald ganz hingab, auch von meinen Knecht und Kittel nicht’s mehr hören mögte. Der helle Morgen fand mich, nach durchwachter Nacht, oft beim praktischen Studium unserer Meister und doch – glauben Sie mir dies auf’s Wort – blieb in meiner Seele Sehnsucht nach anderer Musik zurück, wie ich sie gehört. Ich meine Niemand, doch empfand ich oft bei den so genannten besten Werken der Meister eine Leere und NIchts Anregendes, woher! das wußte ich mir nicht zu erklären. Trivial und bizarr mochte ich das nicht nennen, was große Kunstrichter als rühmlich anerkannten. Ich war der Meinung: Musik müße immer edle Formen und Gestaltungen bringen in jeder Situation sey sie ernst oder konisch. Ich suchte ein Ideal und sollte es finden. –
Ihre2 Name war mir völlig unbekannt. Da hörte ich in meinem 18 Jahr von Mühlenbruch in Bremen Ihr 8 Concert und einige Potpourris. Wie soll ich Ihnen höchstverehrter Herr den Eindruck beschreiben, den diese Compositionen auf mich machten; es war zu überraschend und tagelang ging ich träumend umher und an das Gehörte denkend. – Wie ich demnach Ihre Werke seit der Zeit studirt, das gehört nicht hierher, immer kehrte ich zu denselben zurück, wenn ich mich bemüht bei andern Meistern derselben zu finden. Ihre Werke sind mir auch noch jetzt Alles und werden es bleiben so lange ich lebe.
1838 erhielt ich hier die Organisten Stelle an St. Georg nach vorheriger Probe und so ist die Differenz meines Lebens zu einer befriedigenden Auflösung gekommen; kann ich mich doch jetzt ungetheilt ganz meiner Neigung hingeben.
In Bezug auf Vorstehendes und im Vertrauen daß Sie mir nicht zürnen, wage ich eine Anfrage, Sie bitten bei gelegener Zeit mir einige Auskunft zu ertheilen. Durch langhährige Neigung ist3 mein Haupt Instrument und so können Sie leicht denken, daß ich das was aus Ihren Werken für diese paßte mir arrangirt. Von ausgezeichneter Wirkung ist das Larghetto aus der 3 Sinfonie, das Adagio aus dem Quartett Op 82 N: 2, die Fuge in C aus den letzten Dingen, Mehres aus der Meße und den Psalmen u.s.w.4
Können Sie mir aber verdenken, wenn schon längst der Wunsch in mir rege ward, wenigstens ein Heft für die Orgel componirter Stücke zum Conzert Vortrage von Ihnen im Druck zu sehen!
Gewiß es wünschen dies recht viele mit mir. Selbst Schüchternheit hielt mich ab, bisher Ihnen dies zu entdecken. Sollten Sie dazu geneigt seyn, so garantire ich Ihrem Verlage die Abnahme von wenigstens 100 Expl. für meine Rechnung.
Sie wegen meines langen Schreiben um Entschuldigung bittend, schließe ich noch die Copie des Quartetts bei, hoffend daß Sie Ihnen nicht unlieb seyn wird und bin allseits Ihr

Sie hochachtender
Carl Räusche.

Wismar Mai 6
1840.

Sr. Wohlgeboren
Herrn Hofkapellmeister, Doctor
Louis Spohr.
Cassel.



Spohrs Antwortbrief vom 22.05.1840 ist derzeit verschollen.

[1] Spohr übersandte das Manuskript eines Streichquartetts (vgl. Spohr an Adolph Hesse, 04.04.1840).

[2] Sic!

[3] Hier gestrichen: „und“.

[4] Zum Umfang der Bearbeitungen vgl. Hesses Angaben in seinen Briefen an Spohr, 28.02.1840 und 28.03.1840.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (15.02.2023).