Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287
Inhaltsangabe: Herfried Homburg, „Louis Spohrs erste Aufführung der Matthäus-Passion in Kassel. Ein Beitrag zur Geschichte der Bachbewegung im 19. Jahrhundert“, in: Musik und Kirche (1958), S. 49-60, hier S. 54, Anm. 34

Catlenburg am 26sten April 1840

Um so mehr, mein innigst verehrtester Gönner! fühle ich mich veranlaßt, Ihnen einen Bericht von der Braunschweiger Oster-Woche zu erstatten, als ich das, was mir dort eigentlich wohl das interessanteste war, indirect auch wiederum Ihnen, als meinem von jeher mir so wohlwollenden musikcalischen Protector, zu verdanken hatte! –
Dieses war nämlich die nähere Bekanntschaft des genialen Meyer-Beer selbst, – die bey seiner großen Kränklichkeit mir nur dadurch so schnell specieller zugänglich wurde daß Concertmeister (Carl) Müller mich bey ihm als einen Ihrer wärmsten Verehrer und Ihren1 langjährigen besonderen Schützling bey allen Musik-Vereinen und diesem introducirte; worauf seine blaßen und kränklichen Gesichtszüge sich sogleich in großer Freundlichkeit gleichsam verjüngten! – und seine freundliche Gemüthlichkeit und so fertige Zutraulichkeit sprach mich dann um so mehr an, als sie zunächst, und bey jeder Gelegenheit von neuem, seiner Ihnen gewidmeten warmen Verehrung und Liebe zugewandt war.
Zu dreyen Mahlen hat er mir förmlich „auf das Gewissen gebunden“, ihn Ihrer wohlwollenden Erinnerung zu erneuern; und Ihnen zu sagen, wie schmerzlich es ihm die Reise wirklich getrübt habe, durch allerley unvorhergesehene Fügungen Cassel gerade mitten in der Nacht passirt, und auch nicht vermogt zu haben, das Tagwerden zu erwarten, um Sie zu sehen; worauf er sich so sehr gefreut habe. Ueber manches sonstige Detail seines Ihnen und Ihren Meisterwerken so oft sich zuwendenden resp. lauteren und traulicheren Äußerungen, insonderheit auch in Betreff des ihn ganz vorzugsweise auch gar sehr2 angezogen habenden Pietro von Abano, mündlich mehr!
Meyer-Beer’s ganze Persönlichkeit überraschte mich um so mehr, als ich mir unwillkürlich, ich weiß selbst wodurch, das Bild einer etwas anmaßlichen Art von Marktschreyerey von ihm gemacht hatte! – u ich nun so ganz u gar das Gegentheil davon in seiner freundlich gefällichen u gemüthlich bescheidenen ganzen Haltung fand. –
Die Hugenotten hörte ich unter seiner Leitung in zwey Fest-Aufführungen, – schon am 15ten, u dann wieder am 19ten; u war der Eindruck davon allerdings ein ganz anderer, als 1838 in Frankfurt.3 – Manches was mir dort höchst b[???] und gesucht erschien, z.B. gleich die Romanze des Raoul mit alleiniger Begleitung der Bratsche, entzückte hier bey Schmetzer’s und Carl Müller’s Ausführung mich, wie das ganze überfüllte Haus – (so zu Schmetzers Benefice!) – in hohem Maße! –
M-Beer hatte 3 Wochen lang, – wie Müller mir sagte täglich mindestens 10 Stunden lang! – mit jedem der einzelnen Haupt-Sänger u Sängerinnen deren Rollen privatim durchstudirt; was denn selbst auf das Spiel derselben einen so fühlbaren [???] geworfen hatte, daß diejenigen derselben, welche dessen am meisten bedurften, z. B. Schmetzer, auch in der Hinsicht gar nicht wieder zu erkennen waren! u daraus vielleicht einen für ihr ganzes Leben unverlöschlichen Nutzen gezogen haben. – Wenigstens kann man sich nicht denken, daß z.B. Schmetzer, nach der er den Raoul so gab, jemahls in irgend einer Rolle wieder in sein früheres kaltes und ewig-steifes Spiel zurückfallen sollte! Der Eifer und Enthusiasmus des gesammten Personal’s für diese Vorstellung, auf der Bühne wie im Orchester, war gar fühlbar durch die kunstverständigen und zugleich weltklugen und doch sehr gemüthlichen Einwirkungen des anwesenden Componisten sehr hoch gesteigert; u selbst Fischer gab den Marzell so über alle Erwartung vortrefflich4, – (einige der tiefsten von M. Beer für ihn „punktirt“.) – daß es mich mit der, seiner bestentlichen5 Werthhaltung zugewandten künstlerischen Eifersucht seiner, auch als Valentine völlig unübertrefflichen, Gemahlin in der That aussöhnte! –
Das Ganze war daher eine so vollendete Ausführung dieses complicirten Wertes, daß M-Beer, – in hohen Grade zufrieden mit den vorgefundenen Mitteln, – bezweifelte, daß diese Oper jetzt auf irgend einem Platze in Deutschland gleich gut mögte zu Stande gebacht werden können; und die Chöre, die mich schon immer in Braunschweig ganz vorzugsweise ergötzt haben, fand er besser wie die Pariser.6
M-Beer schreibt jetzt wieder an einer neuen, bis auf die letzte Hälfte des 4ten u letzten Actes bereits vollendeten Oper7; – u auch, in einer nicht zu umgehen gewesenen Veranlassung des Conservatoirs, an einem Oratorio.8 – Den Namen beyder auch seinem Bruder nicht in Ohr flüstern zu mögen, bezeichnete er selbst mit freundlichem Lächeln als eine seiner unüberwindlichen kleinen Eigenheiten! – Die Oper aber wird während der auf den August folgenden Monathe in Paris bereits in Scene gesetzt werden; über welche Manier des Pariser In-Scene-Setzens er uns auch manche interessante Details in traulichen Tafel-Stunden erzählte. – Schmetzer u Pöck reisten am 20sten ab nach London; – (nachdem M-Beer den Marzell nun auch für den practicabel „punktirt“ hatte) – u wird ersterer also nicht in Achen seyn. – Fischer, den ich ebenfalls wiederholt bey M-Beer traf, sagte mir, daß er u seine Frau die Einladung nach Achen angenommen hätten; daß aber eine deshalb daher noch zu erwartende Antwort unbegreiflich lange ausbleibe. –
Allgemein, u besonders von Seiten der Gebrüder Müller, sprach sich eine große Freude u Genugthuung darüber aus, daß Sie in Achen seyn und dirigiren würden; was allein schon verbürge, daß das Ganze etwas sehr ungewöhnliches werden werde, so wie sie auch auf Ihr „Vater-Unser“ sich gar sehr freuten.
Leider war dagegen die Aufführung des Judas Maccabäus in Braunschweig, im Vergleiche zu den dasigen Mitteln, so wohl in der Ausführung am 1st Abend, als freilich noch viel mehr in der General-Probe am 16t Nachmittags, etwas eigentlich miserabeles! – und ein wahres Heimweh in Ihre Garnison-Kirche, gerade zu denselben Stunden, ergriff mich dabey immer von neuem!! –
Es fehlt den an Mitteln so reichen Braunschweigern an einem auch einheimischen Zentral-Punkte; wie Sie den z.B. in Cassel bilden, und allenthalben bilden würden! – u daher waren denn auch für diese Aufführung neuerlichst so höchst bedauerliche Zersplitterungen eingetreten, daß so wenig die ganze Capelle, als, – außer Schmetzer – das Opern-Personale mitwirkte! – u doch was das Gesang-Personale noch weit besser, als das Orchester, ein Fall, der selten vorkomme in einer solchen Stadt; u den ich allerdings doch als noch viel9 störender empfunden habe, denn das umgekehrte! –
Die Gebrüder Müller werden ihre Reise, die denn weiterhin nach Achen führt, wahrscheinlich schon sehr bald antreten, und vielleicht auch ein paar Tage auf unserer Burg zu bringen; wozu ich nur Sie, mein innigst verehrtester Gönner und Ihre liebenswürdige Frau Gemahlinn auch mögte herüber zaubern können!! – Es ist doch wahrlich ein wahrhaft entzückendes Zusammenspiel! – was auch den M-Beer ab und an wahrhaft electrisirte! – sie vernehmen Ihre so freundliche Äußerung in Betreff ihrer etwaigen Dortkunft mit herzlicher Dankverehrung, u werden wahrscheinlich Gebrauch von Ihrem sehr gütigen Erbiethen dafür nehmen. – Es hing alles noch davon ab, wie die Urlaubs-Ertheilung sich gestalten werde. –
Die Müller sind eingeladen, auch in Achen, wo sie schon öfter waren, ein Quartett-Concert zu ihrem Benefice zu geben; u dafür hegen sie eigentlich einen großen Hauptwunsch; – den sie, so in ihrer ganzen fast etwas schüchtern-bescheidenen Manier, – sich nicht getrauen, Ihnen damit vorzutragen! – nämlich, – ob Sie vielleicht geneigen mögten, ihnen für die Ausführung eines Ihrer Doppelquartette dahin zu assistiren, daß Sie die große Freundlichkeit für sie wie für das Publium übten, die Principale Selbst zu übernehmen – ? – so daß dann die 2t Violine der ersten Quartett-Parthie durch Carl Müll[er,] Bratsche u Violoncello resp. durch Gustav u Theodor Müller besetzt würden, und Georg Müller, – (der Musikdirector, der in dem brüderlichen Quartett sonst die 2te Geige spielt) – dann die 1ste Violine der Begleitungs-Quartett-Parthie spielte; unter Aufsuchung paßlicher anwesender Capellisten für dessen übrige Stimmen. – Allerdings eine imaginirte Zusammenstellung, die das Herz noch mehr bluten lassen mögte, nicht auch in Achen seyn zu können! –
Sollten Sie in Ihrer stets so großen Güte und Liebe für verdienstvolle Künstler darauf hierein gehen mögen: so würde ich den trefflichen Gebrüdern eine größere Freude nicht machen können, als denselben etwa schreiben zu dürfen, daß ich die Frage ohne weiteres gewagt, und Sie selbst bejaht hätten!! – in welchem Falle dann zugleich sehr wünschenswerth seyn würde, daß Sie10 zugleich bezeichnen mögten, welches der herrlichen Doppel-Quartette es seyn solle – ? – Carl Müller schien sich sehr für das aus D moll zu interessiren; bemerkte aber zugleich, daß alle drey solche Meisterwerke wären, daß man fast die Würfel entscheiden lassen möge! – aber Entscheidung im voraus wird ihnen allerdings höchst wünschenswerth seyn. –
Von den Töchtern des Schneidermeister Quensteedt, – die Haupt-Solo-Sängerinnen im Judas-Maccabaus, – war auch M. Beer in hohem Grade überrascht! – Besonders die Contra-Altistin, die er am Piano näher geprüft, meinte er, suche mit ihrem vollen 3 Octaven-Umfang ihres Gleichen in Europa wie natürlicher Anlage, u kann, bey richtiger Leitung, recht wohl eine 2te Malibran werden! –
Ein Hauptstein des Anstoßes ist nur, daß der spießbürgerliche Vater nicht will, daß sie zur Oper übergehen!!
Daß bey ihnen noch Ausbildung erforderlich sey, hörte man bey aller Schönheit und stets völlig reiner Intonation der sehr verwandten beyden Schwester-Stimmen allerdings eigentlich durch weg; – u hie u da war diese Parthie offenbar noch zu schwer für sie.
Sollte in dieser Zeit irgend eine Ihrer Opern gegeben werden: so würden Sie durch dessen Avis11 mich hoch erfreuen! – u würde ich denn in dieser Probe u Aufführung einige Entschädigung für die so unerwartet überkommenen Versäumniß Ihres prachtvollen Oratorii12 suchen! – – Mit meiner Frau Ihnen wie Ihrer innigst verehrtesten Frau Gemahlin mich herzlichst empfehelnd, unwandelbar

Ihr dankbarster Verehrer
CFLueder.



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Lueder an Spohr, 28.02.1840. Der nächste erschlossene Brief dieser Korrespondenz ist Lueder an Spohr, 02.05.1840.

[1] „Ihren“ über der Zeile eingefügt.

[2] „gar sehr“ über der Zeile eingefügt.

[3] Vgl. Lueder an Spohr, 14.10.1837.

[4] Vgl. „Fischer als Marcel viel erträglicher, als ich zu hoffen wagte“ (Giacomo Meyerbeer an Minna Meyerbeer, 16.04,1840, in: Giacomo Meyerbeer, Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 3, hrsg. v. Heinz Becker und Gudrun Becker, Berlin 1975, S.251f., hier S. 252).

[5] „bestentlich, Adj. / 1. dauerhaft, fortwährend, ewig“, in: Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, hrsg. v. d. Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Online-Ausgabe].

[6] Vgl. „Es thut mir leid daß Du die hiesige Vorstellung der ,Hugenotten‘ [nicht] hast hören können: wie war würklich ausgezeichnet gut; Orchester und Chöre vortrefflich, unbedingt besser als in Dresden, die Chöre sogar an manchen Orten frischer und lebenskräftiger als in Paris.“ (G. Meyerbeer an M. Meyerbeer, ebd.).

[7] Le prophète.

[8] Zu Meyerbeers Oratorienplänen vgl. Meyerbeer an Gustav Schilling, 28.01.1840, in: ebd., S. 233f.

[9] Hier drei oder vier Buchstaben gestrichen.

[10] Hier gestrichen: „da(?)“.

[11] „Avis, it. Kfspr. Aviso, Bericht, Nachricht“ (Friedrich Erdmann Petri, Gedrängtes Deutschungs-Wörterbuch der unsre Schrift- und Umgangs-Sprache, selten oder öfter, entstellenden fremden Ausdrücke zu deren Verstehen und Vermeiden, 3. Aufl., Dresden 1817, S. 53).

[12] Der Fall Babylons.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (20.01.2021).