Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Wohlgeborner Herr,
Hochgeehrtester Herr Kapellmeister!

Ein Mann, der das Unglück hatte in seinem 43sten Jahre zu erblinden, wodurch er außer Stand gesetzt wurde, sowol für seine eigene Existenz als für die Erhaltung seiner Familie wirken zu können, nahm seine Zuflucht zur Musik; er erlernte das Waldhorn, ließ sich einige kurze Concertstücke einüben und es gelang ihm, nach Verlauf einiger Jahre mehremal damit öffentlich aufzutreten.
Dieser Unglückliche bin ich Unterzeichneter, der es wagt, gegenwärtig Ew. Wohlgeb. mit einer seltsamen Bitte zu belästigen. Nachdem ich sechsmal hier und in der Umgegend in kleinen Concerten einige zwar unbedeutende Einnahmen gemacht hatte1, welche jedoch in meiner gegenwärtigen bedrängten Lage großen Werth für mich hatten, da traf mich ein neuer Unfall, der mir den Ansatz auf dem Horn dergestalt verringerte, daß ich das Horn gänzlich weglegen und zur Flöte greifen muß, welche ich in meinen jüngeren Jahren, jedoch nur nach dem Gehör, geblasen habe.2
Dieser Unfall besteht in Verkürzung meiner Vorderzähne, welche sich seit einem Jahre, dadurch, weil ich in gänzlicher Ermanglung der Backenzähne alle Speisen mit den Vorderzähnen kauen mußte, bis auf die Hälfte abgenutzt haben. Gleich bei meinem Erblinden war ich entschlossen zur Flöte zugreifen, und bestellte mir, vielleicht sonderbar genug, in Leipzig eine Flöte, welche in tief B. stimmt, indem ich mir von derselben einen eigenthümlichen Ton versprach, der zu schwermüthigen Melodien nach meiner Meinung passend sein würde. Seit einem Vierteljahr blase ich mit größestem Fleiß in meiner geschäftslosen Einsamkeit auf dieser Flöte, und übe dieselben Stücke, welche ich für das Horn auswendig gelernt hatte. Man sagt mir allgemein, daß diese Sachen, die nicht für die Flöte geschrieben, nirgends bedeutenden Anklang finden würden, wenn man wirklich auch überall Rücksicht auf die Umstände nähme, unter welchen ich auftrete.
Ich wage nun die gehorsame Bitte an Ew. Wohlgeb. mir einige Stunden Ihrer freilich wol sehr beschränkten Zeit, als eine Unterstützung zu schenken, und mir ein Concertino für die Flöte gütigst zu componiren, dessen Hauptzweck darinnen bestehen möchte, das Gefühl der Zuhörer hinsichtlich meines Zustandes auf's Höchstmöglichste in Anspruch zu nehmen, ohne jedoch durch schwierige Passagen meine Kräfte zu übersteigen, weshalb ich die gehorsamste Bitte beifüge: eine möglichst leichte Tonart für meine B. Flöte zu wählen.
Daß ein von Ihnen für mich besonders geschriebenes Musikstück mir gewiß überall erwünschten Zutritt verschaffen würde, dafür bürgt der Name Spohr! Ich schmeichle mir mit der Hoffnung, daß diese gewagte Bitte keine Fehlbitte sein werde, da in dem Busen eines Mannes, der so viele tausend Herzen durch seine Compositionen zu den sanftesten Gefühlen bewegte, ein Herz schlägt, das für wahres Unglück, wie das meinige gewiß ist, unmöglich gleichgültig bleiben wird.
Mit vollkommenster Hochachtung unterzeichnet

Ew. Wohlgeboren

gehorsamster Diener,
Aug. Whistling;
vormals Förster zu Großfurra.

Sondershausen,
den 15ten März, 1840.

Autor(en): Whistling, August
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen:
Erwähnte Kompositionen:
Erwähnte Orte: Großfurra
Sondershausen
Erwähnte Institutionen:
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1840031544

Spohr



[1]  Vgl. „Vermischtes“, in: Neue Zeitschrift für Musik 11 (1839), S. 64.

[2] Vgl. August Whistling, Selbstbiographie und Gedichte des erblindeten August Whistling. Ein Beitrag zur Psychologie, nebst einigen Winken für Blindheitbefürchtende, Sondershausen 1842, S. 67-72.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Wolfram Boder (10.11.2020).