Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Catlenburg am 16ten Februar 1840

Ihr so interessantes liebes Schreiben vom 13ten d.M., mein innigst verehrtester Gönner! fand ich gestern Abend bey meiner Rückkehr resp.(???) von Goettingen u Wehnde hier vor, und kann Ihnen nun meiner Seits unsere Dankbarkeit für diese unerwarteten Beweise Ihres liebevollen Wohlwollens, aber anderer Seits auch unsere wahre Wehmuth mit Worten nicht ausdrücken, in ungelegenster Fügung Ihrer so freundlichen Ruhe nicht folgen zu können, – auf die ersehnte Wallfahrt zur Weihe der Töne unerbittlich resigniren zu müssen!! –
Die Messe in Braunschweig war in d. J. um 8 Tage später. bey meiner daher erst am 13ten erfolgten Heimkehr fand hier die Nachricht vor, daß Termine in Domanial-Servituten-Ablösungs-Angelegenheiten hier auf den 18ten, 19ten, 20ten u 20sten angesetzt seyn; – was schon für andere Pläne mir höchst contrair war; – nun aber unter dem Hinzukommen der dadurch herbeyführten Resignirung auf die von Ihres stets so großen Gute in so reichem Maaße uns zugedachten musicalischen Genüsse mich alle Geduld um so mehr verlieren lassen mögte, als die Gegenstände jener Verhandlungen zum Theile an sich schon für mich eben so intricat1 als in hohem Maaße widerwärtig sind! –
Es ist dabey von einem Pendant der Fälle die Rede, deren ich einst in traulichem Cirkel bey Ihrem verehrtesten Herrn Schwiegervater2 einige als thatsächliche Beweise anführte, daß gar manches der anderen vermeintllichen Entlastungs-, so genannt liberalen Theorien, so vortreflich sie auf den Ruder-Reihen u hinter dem grünen Tische klingen, in der Praxis auf die Länge hinaus sich nicht bewähren! Die der hiesigen Domaine zu ständigen Dienste wurden schon vor 50 Jahren in überaus mäßige Geld-Sätze verwandelt so daß die Domaine damahls über Verlust zu klagen hatte. In der in unserem Lande von jeher vorherrschend gewesenen wohlwollenden Administrations-Weise wurde den Dienstpflichtigen, nicht aber der Domaie, frey gelassen, von 25 zu 25 Jahren die Reluitions-Einigung3 zu kündigen u zum Natural-Dienst zurückzukehren; in dessen Veranlassung die hiesigen Pächter, u so auch ich sich stets verpflichten mußten, solche Dienst für jene Relutions-Preise wieder mit in Pacht zu nehmen, wenn die Leute etwa jemahls auf Rückehr zum Natural-Dienst bestehen sollten; was ich immer als eine letzte Formel betrachtet, u, wie meine Pachtvorgänger, halb lachend unterzeichnet habe; – da man glauben sollte, die Welt gehe darin nicht rückwärts! – Und siehe da! – jetzt wollen die Leute mit aller Gewalt wieder in natura dienen! – Bis jetzt sind alle Gegenvorstellungen, u darunter auch die, – wie in der Welt alles fortgeschritten sey, u so vor allem auch der landwirthschaftliche Fleiß u4 Acuratesse in Vollbringung der Arbeiten, u daß also unvermeidlich u unwillkürlich auch eine um so fleißiger u sorgsamer Vollbringung der Dienst-Feldarbeiten schärfer werde controllirt u erfordert werden, als vor 50 Jahren! – Alles vergeblich! – sie verlangen die Natural-Dienste mit ihrem Pferden, Affen, Kühen, u eigenen Fürsten wieder zu thun! – u kein Geld zu zahlen! – sey es auch noch so wenig! –
Vermögte ich es über mich, mein landwirtschaftl. Thun u Treiben als eine wie finanzielle Speculation zu verfolgen: so würde ich nur Urtheil von solcher General-Umwälzung aller wirtschaftl. Verhältnisse haben! – Da aber nur der Genuß des fortlaufenden Belauschens der Natur an diese, auch ihre großen Schatten-Seiten habende, Lebenslage mich fesselt, u in letztem Hintergrunde immer nur der Gedanke mich genügend darin erwärmt, wie das, was erhöhter Fleiß5 u Industrie dem Leben enthebt, bey gewöhnlicherer Arbeit u Bewirthschaftung erst schlafen bleibt, - u also der ganzen Menschheit nutzen bleiben würde: – so gestehe ich, daß jene etwaige Nothwendigkeit, meine eigenen Gespanne(?) abzuschaffen, und nur mit bäuerlichen Diensten wirthschaften zu sollen, um so mehr zu meiner Lebenssorge hier mein Hierbleiben werden könnte, als es auch meinem ganzen Naturell u allem meinen Neigungen u Empfindungen zuwider ist, unaufhörlich als mein „Quos-ego6!“ gegen meinen ländlichen Nachbarn erscheinen zu müssen! – was bey Wieder-Aufleben der7 seit 50 Jahren nicht mehr geleisteter Dienst doch völlig unvermeidlich werden würde! –
Es sind also jene Tage, in welchen, – nachdem die Beamten eine Vermittlung nicht haben erreichen können, – diese nun dem, durch das nach oben wie nach unten auf gleiche Weise ihm gezeichnete8 große Vertrauen, einstens(?) darinn sehr glücklichen Cammer-Commissair Lueder, unter meiner Mitwirkung noch mahls übertragen ist, für mich von noch entschiedendener Wichtigkeit als für die Domaine selbst! – Viel aber werden wir des Abends, nach vollbrachten Terminen, den Freuden dankbar gedenken, welche Ihre unbegränzte Güte uns zugedacht hatte! Auch verehren meine Frau wie ich die uns zum höchsten interessante Gabe Ihrer theuren Frau Gemahlin, – diesen gemüthreichen Nachlaß des so früh erklärten talentreichen Lebens, mit innigster Dankbarkeit! –
An Opern habe ich in Braunschweig, „Lucrecia Borgia“ von Donizetti mit italienischem Texte, die „Norma“, u „Je toller je besser“ oder une folie von Méhul gehört, – die Ausführung aller Sänger(?) höchst vortrefflich! Nach dem tollen Titel der letzteren wurde ich durch deren so wohlthuend ruhig dahin fließende Melodien, u einfache, anspruchslose, u doch gar liebliche Klarheit höchst angenehm überrascht.
Quartett-Abende sind in der Messe schwer zu erreichen, u selbst die Morgen durch einige Proben besetzt. Dennoch verdanke ich der großen Freundlichkeit des Obristl.9 von Wolfrath einen derartigen höchst interessanten Abend am 11ten d.M. – Unter anderem trugen die als Quartettisten wirklich unübertrefflichen 4 Gebrüder Müller Ihr mir noch neues Quartett aus d Moll10, – welche dieselben Ihnen auch in Halberstadt gespielt zu haben erwähnten, – wahrhaft begeisternd war!! – Nächstdem war das bey weiten interessanteste ein Quartett von Beethoven aus a moll, oeuvre posthume, – wohl mit das genialste was ich von ihm kenne, es – ein wohl in jeder Note so zu sagen unerwartet, – doch verständlicher, als manches andere dieser etwas überspannt genialen Lebens-Epoche des wunder(???) würdigen Mannes. – Die Müller gehen Pfingsten zu dem Musikfest in Achen; u wünschen auf der Hinreise, im May,11 wohl gerne einen Abstecher nach dem interessanten Cassel machen, wenn auf einigen Erfolg eines dasigen Quartett-Concerts zu rechnen wäre; – ich gestehe daß ich darüber keine eigentliche Meinung haben konnte. Nach Erfurt, Weimar, Gotha, waren sie dringend eingeladen. – Unwandelbar innig – Ihr – wärmster Verehrer CFLueder.



Dieser Brief ist die Antwort auf den derzeit verschollenen Brief Spohr an Lueder, 13.02.1840. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Lueder an Spohr, 28.02.1840.

[1] „intricat, verwickelt, verworren, verfänglich, mißlich, häßlich“ (Friedrich Erdmann Petri, Gedrängtes Deutschungs-Wörterbuch der unsre Schrift- und Umgangs-Sprache, selten oder öfter entstellenden fremden Ausdrücke, zu deren Verstehn und Vermeiden, 3. Aufl., Dresden 1817, S. 255).

[2] Burchard Wilhelm Pfeiffer.

[3] „Reluition, f. / Aus-, Einlösung (eines Pfandes)“ (Deutsches Rechtswörterbuch (DRW)).

[4] Hier ein Wort, bzw. drei Buchstaben gestrichen.

[5] Hier zwei Wörter gestrichen.

[6] „quos ego“ (lat.) = „euch will ich helfen!“.

[7] „der“ über der Zeile eingefügt.

[8] Am Wortende gestrichen: „n“.

[9] „Obristl.“ = Abk. f. „Obristlieutenant“ (vgl. Braunschweigisches Adreß-Buch (1840), S. 140).

[10] Op. 74.3 oder 84.1.

[11] Hier gestrichen: „und würden“.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (07.12.2020).