Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287
Inhaltsangabe: Herfried Homburg, „Louis Spohrs erste Aufführung der Matthäus-Passion in Kassel. Ein Beitrag zur Geschichte der Bachbewegung im 19. Jahrhundert“, in: Musik und Kirche (1958), S. 49-60, hier S. 54, Anm. 33

Catlenburg am 13ten December 1839

Mein innigst verehrtester Freund und Gönner!

So ist denn endlich die Zeit anbey gekommen, die ohne all’ zu große Unbescheidenheit mir erlaubt, durch unseren innigst herzlichsten Glückwunsch zu Ihrer so glücklichen als glorreichen Vollendung der so viel hoch interessanten Reise nach Albion’s schönen Gestaden ein Tröpfchen Ihrer kostbaren Zeit in Anspruch zu nehmen! – indem wir damit endlich ein Mahl wieder auch den Wunsch des frischesten u fröhlichsten Apetites für die beygehenden frischen Würstel verbinden können; deren erste Fabrication in diesem Jahre etwas weit hinaus sich gezögert hat. –
Kann es ohne Unbescheidenheit geschehen: so erlauben wir uns die Bitte, der liebenswürdigen Reisegefährtin1, Frau von Malsburg Excellenz eine Leber und eine Weis-Wurst mit unseren angelegentlichsten Empfehlungen überbringen lassen zu wollen. –
Mit welcher herzlichen Freude, Theilnahme und Begierde wir die Zeitungs-Artikel über die magische Wirkung Ihres Meisterwekes wie Ihrer Wieder Erscheinung2 in England gelesen haben, und wie3 ich mich darauf freue, gelegentlich mündlich noch manches Detail über diese interessante Reise zu hören, vermag ich Ihnen nicht auszudrücken.
Die so unvergeßlich genußreichen Tage Ihres und Ihrer so talentreichen liebenswürdigen Frau Gemahlin Hierseyns hatten mich für großartigen Musik Genuß zu sehr angeregt, um nicht eine Reise zu dem Braunschweiger Musik-Fest doch noch möglich zu machen! – wo wir denn Ihrer gar viel gedachten! – und öfter uns zu vergegenwärtigen suchten in den verschiedenen musicalischen Cirkeln, wo Sie in dem Augenblicke auf Ihrer Reise weilen mögten! –
Das Fest war durch die persönliche Einwirkung des in der That ungemein liebenswürdigen und genialen Mendelsohn ohne allen Vergleich interessanter als das wenn gleich ausgedehntern vor 3 Jahren. – Auch in mehreren ihm gewidmeten Privat-Musikparthien hatte ich den wahrhaft großen Genuß ihn näher kennen zu lernen; und sein vollendetes Spiel wie seine großartig genialen Compositionen bezauberten mich um so mehr, als bey jeder Gelegenheit die ihn durchglühende Liebe u Verehrung für Sie, mein innigst verehrtester Gönner! hervorleuchtete. – Er bedauerte gar sehr, in seinem Versprechen, sie vor Ihrer Abreise noch besuchen zu wollen, behindert worden zu seyn.4
Die Ausführung des Paulus als Ganzes war höchst vortrefflich; wenn gleich die Solo-Parthien, mit alleiniger Ausnahme des in dieser Parthie wahrhaft sich selbst noch übertreffenden Schmetzer, vor 2 Jahren in Cassel besser besetzt waren;5 – was mich hinsichtlich der Fischer-Achten, ich will es ehrlich stehen, überraschte, und auch mit wohl darin lag, daß sie sehr unwohl war u am Rande eines zu beziehenden Wochen-Stübchens stand. – Auch die Alt-Parthie entbehrte die Müller durch Unwohlseyn; wurde aber durch die Tochter6 eines Schneider-Meisters höchst überraschend u durchaus vortrefflich7 ergänzt. –
An dem 2ten Concert Tage war ein von Müller so geistvoll und tief aufgegriffen, wie ich Soli’s eigentlich noch nie von ihm gehört, vorgetragenes Adagio von Ihnen. – von Anfang bis zu Ende das edle „Sonst“ – von großer und allgemein ergreifender Wirkung; u ich fand es höchst paßlich, und auf das8 etwas zu viel Schall9 habende Kirchen-Locale gar wohl berechnet, daß Müller sich solchen Tages ausschließlich auf dieses Adagio beschränkte.10 – Was ich aber an selben Tage schwer entbehrte, war, daß man nicht eine Ihrer großen Symphonien in diesem „Symphonien-Concerte“ gewährt hatte! – wenn gleich Webers Jubel-Symphonieund die Eroica von Beethoven auch mit großem Genuße anzuhören waren. –
An dem 3ten Tage, – Mendelsohn’s Concert zum Besten des Orchester-Pensions-Witwen-Fonds, – war dessen vorzügliches eigenes Spiel, - die erste Piece ein aus drey Sätzen bestehendes großes Concert, entschieden am weiten hervorragenste.11
Man flüsterte sich in Braunschweig fest die Hoffnung vertraulich in’s Ohr, daß man Mendelsohn daselbst als Capellmeister ganz gewinnen würde! –
Sollten Sie zeitig genug vorher es übersehen können, wann dort im Laufe des Winters ein Mahl eine Ihrer großen Symponien aufgeführt wird, um mich davon benachrichtigen zu können, und es will sich irgend einrichten lassen: so kommen wir dazu! – ich habe schon seit lange einen wahren Heißhunger für ein derartiges Werk von Ihnen! – Und doppelt anziehend wäre das allerdings, wenn sich auch gerade einer Ihrer Concert-Solo-Vorträge damit vereinigen wollte! – die Probe davon, würde ich dann aber auch gerne mitnehmen! – besonders hinsichtlich der Symphonie! –
Meine Frau empfiehlt sich Ihnen und mit mir Ihrer innigst verehrtesten liebenswürdigen Frau Gemahlin ergebentlichst und herzlichst. – Mit Herz und Mund

Ihr
so dankbarer als warmer
Verehrer
CFLueder.



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Lueder an Spohr, 17.07.1839. Spohr beantwortete diesen Brief am 06.01.1840.

[1] Caroline von Malsburg begleitete das Ehepaar auf der Englandreise 1839.

[2] Nach Spohrs erstem Englandaufenthalt 1820.

[3] Hier gestrichen: „sehr“.

[4] Vgl. Felix Mendelssohn Bartholdy an Spohr, 16.08.1839.

[5] Vgl. „Die Chöre und den Tenor (Schmetzer) kann m an sich nicht schöner wünschen […] Die Schattenseiten waren der Sopran und Baß, Heer und Mme. Fischer-Achten, die beide nicht in der glücklichsten Verfassung waren, obwohl auch sie sich alle Mühe zu geben schienen“ (Felix Mendelssohn Bartholdy an Lea Mendelssohn Bartholdy, 11.09.1839, in: Felix Mendelssohn Bartholdy, Sämtliche Briefe, Bd. 6, hrsg. v. Kadja Grönke und Alexander Staub, Kassel u.a. 2012, S. 460ff., hier S. 461).

[6] Maria Quenstedt (vgl. „Schreiben aus Braunschweig (27. Septbr.)“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 41 (1839), Sp. 791-797, hier Sp. 793).

[7] Hier ein Wort gestrichen („mehr“?).

[8] „auf das“ über einem gestrichenen Wort eingefügt.

[9] Vgl. dazu den erwähnten Brief von Mendelssohn an seine Mutter.

[10] Vgl. „Schreiben aus Braunschweig“, Sp. 796.

[11] Vgl. ebd., Sp. 797.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (25.09.2020).