Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287[Kleinwächter,L.:24

Prag den 28t Novbr 1839.

Vielgeliebter, innig verehrter
Herr!

Vor Allem Vergebung über mein langes Stillschweigen! Ich habe Ihrer in der letzten Zeit wiederholt innig gedacht, und hätte nicht angestanden, Ihnen unsere innige Freude über Ihre neuesten in England empfangenen Huldigungen darzubringen, wenn ich nicht mit Absicht meine Mittheilungen auf einen Zeitpunkt verschoben hätte, zu welchem ich Ihnen zugleich ein vorhergehendes Familienereignisz berichten wollte. Meine gute liebe Frau hat mich am 15ten dieß – hinnig genug an meinem eigenen Geburtstage – mit einem zweiten Söhnlein beschenkt. Die Leiden meiner Frau waren dießmahl sehr kurz, und seit dem Momente der Entbindung sind Mutter und Ankümmlich im besten Wohlbefinden. Gott sei Dank! Derlei Dinge im Bevorstehen mach mir immer unendliche Angst und Sorge. Der Kleine heißt Ludwig Karl. Auch sein älterer Bruder Friz ist sehr munter und macht uns – insbesondere dem Groszvater1 – sehr viele Freude für den Neugebornen2. Dasz der Name Louis nicht blos des Vaters Willen gewählt ist, brauche ich Ihnen kaum erst zu sagen. Mögen Sie seiner freundlich gedenken!
Nun genug vom Familienvater! und zu dem was eigentlich schon gleich Anfangs hätte kommen sollen! Welche unnennbare Freude uns Ihre Triumphe der letzten Zeit gewährt haben, können Sie sich denken. Es that meinem Herzen so innig wohl, zu sehen, wie doch endlich wieder einmal die liebe echte Kunst anerkannt, und – was mit Beziehung auf den Effekt nach Auszen hin gewisz viel wirkt – von einem tonangeberischen Volke respektirt worden ist. Ich bin sehr begierig von Ihnen selbst unmittelbare Nachricht hierüber zu vernehmen. Ist es wahr, dz3 Sie sich einen Oratorium Text von England mitgebracht, und schon Viel an dem Werke fertig gearbeitet haben? Ich las diesz letzthin in einem Journale.4 Wenn es sich bestätigt, so sind Sie ja unendlich fleiszig! Zwei Sinfonien und ein Oratorium so kurz nacheinander schreiben, das ist keine Kleinigkeit!
Vor Kurzem ist hier Ihr letztes – erschienenes – Oratorium gegeben worden. Die Tonkünstler-Wittwen- und Waisen-Sozietät wählte es für ihr Conzert unter der Leitung des thätigen und einsichtsvollen Capellmeister Skraup. Es gieng wirklich sehr gut, und sprach dermaszen wieder an, dasz zu Weihnachten eine Reprise davon statt haben soll. Skraup gab sich aber auch wirklich alle erdenkliche Mühe, Ihr herrliches Werk würdig zu Gehör zu bringen, und ward auch am Schlusze einstimmig gerufen. Die Besetzung war nicht übermäszig, jedoch stark genug für den Saal, in dem die Produktion vor sich gieng. In Folge dieser Aufführung hat Berra von den bei ihm noch in Commission befindlichen 10 Exemplaren des Clavierauszugs5 drei an einen hier neu etablirten Musikhändler Namens Hoffmann – mit meiner Beistimmung – überlassen. Letzterer wird Ihnen unbezweifelt den Betrag nächstens remittiren. Bei dieser Gelegenheit bin ich zugleich dahinter gekommen, wie es geschehen, daß hier Exemplare dieses Oratoriums unter dem von Ihnen gestellten Preise verkauft wurden, wovon ich Ihnen schon Mittheilung gegeben zu haben glaube. Es hat nemlich jemand gleich bei Erscheinen des Werks bei mir – ich glaube – 10-12 Exemplare subskribirt, hielt mich jedoch mit der Bezahlung hin, und hätte mich wahrscheinlich sitzen lassen, wenn nicht sein Vater den betrag erlegt hätte. Die Exemplare aber wanderten unterdeszen um sen halben Preis an berra, und der junge Herr erhielt durch diese Speculation Geld in die Hände, was er in anderem Amt wohl nicht so schnell bekommen hätte. Natürlich blieben nun auch die 10 Exemplare, die Berra von Ihnen in Commission genommen bis itzt liegen – worüber mich6 zu wundern ich natürlich itzt aufgehört habe. Ich theile Ihnen diese ordinäre Geschichte – eigentlich Lumperni – geflißentlich mit, um allen Verdacht zu beheben – auf den ich selbst schon kam – ob nicht vielleicht die Verleger per nefas mehr erdruckt hätten, als sie Ihnen angaben?
Von Ihren Liedern mit Clainette hat letzhin meine Schwester7 in der ersten heurigen Soirée bei Ruziczka zwei gesungen. Sie fanden stürmischen Beifall. Herr Pisarowitz, erster Clarinettist im Orchester, der junge Mann, welcher Ihnen bei Ihrer letzten Anwesenheit schon gefiel, und durch Absterben des alten Farnic in den Platz des Clarinetto primo eingerückt ist – blies die Begleitungsparthie exzellent. In den nächsten Abenden sollen die übrigen davon kommen, auch soll Mdme Podhorsky nächstens eines davon in einem Conzerte öffentlich singen.8
Ihr neues Rondo für Violine und Piano9 so wie das Lied10 aus dem Paul‘schen Album sind seit Kurzem hier eingetroffen; beide Piecen haben uns sehr gefallen.
Happ ist seit einigen Wochen hier, und scheint zufrieden zu sein. Er ist wirklich so weit ich Gelegenheit hatte, ihn kennen zu lernen, ein Mensch von sehr solidem Wesen, dem ich sehr gerne nützlich sein möchte. Ich gab mir Mühe, ihn mit allen Musiknotabilitäten hier in Beziehung zu bringen, und hoffe auch dz11 die kleinliche Gehäszigkeit mit der hier die Herrn vom Fache dem Kinderfreundschen Musikinstitute entgegen treten, wenigstens die Person des Herrn Happ nicht treffen werde. Uiber das Institut selbst wird Ihnen Happ wohl ein Näheres mittheilen12, es scheint sich die Sache – wider all mein Erwarten – beszer zu machen. Oeffentlich hat H. hier noch nicht gespielt; ich zweifle nicht, dasz er sehr ansprechen werde, mir gefiel wenigstens sein würdiges und edles Spiel sehr. Es thut sehr wohl hinter so affektirtem Treiben eines Prume13 – der itzt hier war, den ich aber troz mancher Vorzüge keinen Geschmack abgewinnen konnte – einen echt deutschen Violin-Spieler zu hören! Der Mann ist noch jung, fleiszig, begabt und kann noch viel leisten, Glück auf!
Mein neues – zweites – Quartett für Bogen Instrumente wird nächstens bei Pixis gegeben. Bei der Probe war ich mit dem Effekt zufrieden, und bin nun begierig auf den Anklang im Publikum. Es ist etwas – nicht viel – leichter, wie das erste. Sobald ich es noch öfter gehört, werde ich so frei sein, es Ihnen – um Ihr Urtheil – mitzutheilen, und zugleich ein für Sie bereit liegendes Exemplar meiner ohnlängst im Stich erschienenen Motette beischliszen. Darf ich Sie wohl bitten, mir das versprochene Urtheil über meine Lieder nicht vorzuenthalten, ich warte darauf mit unnennbarer Spannung. Gegenwärig schreibe ich an einer – jedoch nicht zu breit ausgesponnenen, auch nur mit wenig Begleitstimmen besetzten Messe. Kyrie und Gloria sind skizzirt, das Credo im Werden. Auch habe ich einige Kleinigkeiten für das Pianoforte im Salonstyl geschrieben, um mich durch den Gegensatz der Composition in der Spannung zu erhalten, was ich überhaupt in der Beschäftigungsweise liebe. Wenn nur meine Zeit nicht so kurz gewesen wäre!
Heuer war ich nahe daran, Prag zu verlassen; ich war für eine juridische Professur an der theresianischen Akademie zu Wien allseitig primo loco vorgeschlagen, jedoch vereitelte eine unmittelbar bei Hofe Platz gegriffene Invervention für einen Mitkompetenten meine schon sehr wahrscheinlich gewordenen Pläne. Wer weisz, zu was es gut war, dz es so und nicht anders gekommen, wenigstens glaube ich durch diesen Vorschlag für eine nächste Arpertur wohl empfohlen zu sein!
Kittl – der sich Ihnen danken empfiehlt – hat letzthin einen Brief von Mendelssohn erhalten, der ihm die hoffentlich balde Auffürhung der Jagdsymphonie in Leipzig meldet. Er ist entzückt vor Freude, und will zur Production selbst hin.
Nun zum Schlusze noch zwei Bitten!
Erstens: würde ich ersuchen, mir über Ihren Gesangverein14 und dessen Einrichtung Einiges mitzutheilen. [Können Sie mir nicht etwa die Statuten communiziren?]15 Hier geht Skraup damit um, einen zu stiften, und wünscht daher Auskünfte zur Beachtung.
Zweitens: erlaube ich mir die Frage, ob Sie nicht einen Chor-Basz-Sänger im Theater brauchen? und wie16 diese Herrn bei Ihnen gestellt sind? Ich wüszte Jemanden17 hier, der vom hiesigen Chore aus mancherlei Gründen gerne zu Ihnen ginge, und für dessen Qualification als Theaterchorsänger ich unbedingt einstehe, auch glaube ich dürfte er in Aushülfs-Basz-Parthien zu verwenden sein. Seine Frau18 ist gleichfalls Chorsängerrin hier, und würde in gleicher Eigenschaft auch bei Ihnen eintreten.
Nun leben Sie sehr wohl, vergeben Sie mein langes Geplauder, und erfreuen Sie bald mit einigen Zeilen

Ihren treu ergebenen
Louis Kleinwächter

Die herzlichsten Grüße und Empfehlungen von uns Allen für Sie und Ihre verehrte Frau Gemahin folgen mit!



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Kleinwächter an Spohr, 22.08.1839. Spohrs Antwortbrief vom 30.12.1839 ist derzeit verschollen.

[1] Ignaz Kleinwächter.

[2] „sehr viele Freude für den Neugebornen“ über der Zeile eingefügt.

[3] „dz“ = Abk. f. „dasz“.

[4] Vermutlich „Spohr soll sich einen Text zu einem Oratorium ,Babylons Fall‘ aus England mitgebracht haben und bereits daran componiren“ („Vermischtes“, in: Neue Zeitschrift für Musik 11 (1839), S. 168).

[5] „des Clavierauszugs“ über der Zeile eingefügt.

[6] „mich“ über der Zeile eingefügt.

[7] Caroline, später verh. Skraup.

[8] Statt Podhorsky sang der Tenor Emminger (vgl. A.M., „Musikalische Akademie vom 31. Jänner“, in: Bohemia 02.02.1840, nicht paginiert).

[9] Op. 111.

[10] WoO 97.

[11] „dz“ = Abk. f. „dasz“.

[12] Vgl. Wilhelm Happ an Spohr, 11.11.1839.

[13] Zu Prumes Prag-Aufenthalt vgl. „Theaterbericht vom 16. bis 18. September“, in: Bohemia 20.09.1838, nicht paginiert; „Theaterbericht vom 19. September“, in: ebd. 22.09.1838, nicht paginiert; „Theaterbericht vom 20. bis 22. September“, in: ebd. 24.09.1838, nicht paginiert; „Theaterbericht vom 24. September“, in: ebd. 27.09.1838, nicht paginiert.

[14] Cäcilienverein Kassel.

[15] Ausdruck in Klammern über der Zeile eingefügt.

[16] „wie“ über der Zeile eingefügt.

[17] Noch nicht ermittelt.

[18] Noch nicht ermittelt.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (02.05.2019).