Autograf: Bodleian Library Oxford (GB-Ob), Sign. GB 10: 177
Druck: John Michael Cooper und R. Larry Todd, „'With True Esteem and Friendship'. The Correspondence of Felix Mendelssohn Bartholdy and Louis Spohr“, in: Journal of Musicological Research 29 (2010), S. 171-259, hier S. 239f.; englische Übersetzung S. 198f.

Sr. Wohlgeb.
dem Herrn Musikdirector
Felix Mendelssohn Bartholdy
in
Leipzig.

franco.


Cassel den 1sten
November 1839.

Geehrtester Freund,

Ich muß um Verzeihung bitten, daß ich mein[em] Versprechen „Ihnen die neue Sinfonie1 zur Aufführung zu senden“ vor der Hand noch nicht nachkommen kann. In London wurde ich von der Philharmonischen Gesellschaft aufgefordert, für ihre nächsten Concerte eine Sinfonie zu schreiben. Wie die Directoren erfuhren, daß ich so eben eine beendigt habe, die noch nicht einmal probirt sey, so sprachen sie den Wunsch aus, diese zu aquiriren, stellten aber die Bedingung, daß sie vor dem Schluß der nächsten Saison weder irgendwo öffentlich gegeben, noch publicirt werden dürfe. Ich ging diese Bedingung ein, hauptsächlich weil meine 5te Sinfonie2 in diesem Herbst erst versandt wird und es daher mit der Veröffentlichung der neuen keine Eile hat. Ich habe aber nun Sie recht sehr um Entschuldigung zu bitten, daß ich meinem Versprechen erst im nächsten Herbst nachkommen kann.
Da ich die Sinfonie nun auch hier nicht öffentlich geben darf, so habe ich sie meinen musikalischen Freunden in einer Probe zu hören gegeben. Zwischen dieser und der Vollendung der Sinfonie3 war ein Zwischenraum von 6 Wochen und was noch mehr sagen will,4 es lag die englische Reise mit ihren vielen Musikaufführungen dazwischen. Ich war daher, viel mehr als es sonst der Komponist seyn kann, ein unbefangener Zuhörer. Als solcher fand ich nun im Ganzen genommen den Efekt meinen Erwartungen entsprechend, doch fiel es mir auf, daß die Verschiedenheit im Styl zwischen den beyden ersten Sätzen (der Bach-Händelschen- und Mozartschen Periode) viel größer war als zwischen den folgenden. Doch erklärt sich dies wohl aus dem Umstand, daß unsere jetzige Musik noch immer auf die Mozartsche Periode basirt ist und daß nach5 einem solchen Genie, welches eine totale Revolution im Geschmack hervorgerufen hatte, nothwendig ein Stillstand eintreten mußte. – Es ist indessen doch noch ein, selbst dem Laien bemerkbarer Unterschied im Styl der letzten Sätze und ich glaube so wohl6 das fantastische und in der Form übergreifende, so wie das pikante in der Instrumentirung der Beethovenschen mittlern Periode eben so treu7, wie das excentrische, lärmende und kecke der allerneusten Periode8 getroffen zu haben.
In England haben wir Ihrer oft in L[iebe] gedacht, da wir allenthalben auf Verehrer und Freunde von Ihnen stießen. Ich habe diesmal die Engländer recht lieb gewonnen, und eine ganz andere Meynung von ihrem Musiksinn bekommen. Vieleicht lag dies daran, daß uns ein günstiges Geschick sowohl in London wie in Norwich in ihre vertrauten Familienzirkel9 einführte und uns da einheimisch werden ließ. Wir haben höchst liebenswürdige Menschen kennen lernen, die wir nie vergessen werden.10
Der Tod der liebenswürdigen und talentvollen Mad. Voigt hat uns schmerzlich berührt! Wie sehr sind ihr Mann und die Kinder zu beklagen!
Mit der Bitte, uns Ihrer Fr. Gemahlin angelegentlichst zu empfehlen, von Herzen der Ihrige
Louis Spohr

NS. Von London habe ich ein neues Oratorium11 mitgebracht und versprochen, es für das nächste Norwicher Musikfest zu componiren. Sollten Sie diesen Winter eine Ihrer Sinfonien geben oder eine neue Ouverture, so würden sie uns durch deren Mittheilung für unsre Winterconcerte äußerst erfreuen.



Der letzte erschlossene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Mendelssohn, ab dem 18.08.1839. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Mendelssohn, 21.11.1840.

[1] Historische Sinfonie.

[2] Op. 102.

[3] „der Sinfonie“ über der Zeile eingefügt.

[4] Hier gestrichen: „die“.

[5] „nach“ über der Zeile eingefügt.

[6] „so wohl“ über der Zeile eingefügt.

[7] „eben so treu“ über gestrichenem „so“ eingefügt.

[8] Hier gestrichen: „zu“.

[9] Das Ehepaar Spohr logierte während des Norwicher Musikfests in der Familie des Bürgermeisters John Marshall (vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 14.09.1839). Aus der Einladung zum Musikfest durch Edward Taylor resultierte eine lebenslange Freundschaft.

[10] Vgl. Marianne Spohr, Tagebucheinträge 08.-22.09.1839.

[11] Der Fall Babylons.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (26.06.2020).