Autograf: Spohr Museum Kassel, Sign. Sp. ep. 1.1 <18391016>
Druck: Hans Jürgen Seyfried, Adolph Friedrich Hesse als Orgelvirtuose und Orgelkomponist (= Forschungsbeiträge zur Musikwissenschaft 27), Regensburg 1965, S. 26 (teilweise)
Beleg: Autographen. Historische Autographen, literarische Autographen, Musiker, Schauspieler und bildende Künstler, Stammbücher. Versteigerung am 20., 21. und 22. Oktober 1926 (= Katalog Liepmannssohn 48), Berlin 1926, S. 174f.

Cassel den 16ten
October 1839
 
Geliebter Freund,
 
Ich wünschte Sie auf einige Stunden, wenn es nicht länger seyn könnte, hierher, um Ihnen von der Reise erzählen zu können, denn das Schreiben darüber wird bey dem weiten Stoff doch nur dürftig Ausfallen. – Unsere Hin- und Rück-reise war, ein wenig unruhige See abgerechnet, ohne allen Unfall; Frau von Malsburg und ich wurden zwar seekrank, doch nur auf wenige Stunden und nur auf der Hinfahrt.1 Meine Frau blieb ganz verschont. Da mein Urlaub sehr beschränkt war (nicht einmal völlig 4 Wochen) so konnten wir nur auf der nirgends lange aufhalten und haben deshalb nur in Düsseldorf einen Tag, in Rotterdam einen Halben2 und auf der Rückreise in Brüssel, wo gerade das Septemberfest sehr glänzend gefeiert wurde3, einen Tag verweilen können. Selbst für das herrliche London hatten wir nur 6 Tage, die wir aber vom Morgen bis zur einbrechenden Nacht benützt haben, um so viel wie möglich von der Weltstadt zu sehen.4 Am 13ten Sept. fuhren wir dann mit der Postkutsche nach Norwich, wo wir im Hause des Maiors5 eine Woche verweilten.6 Am andern Morgen war die erste Probe. Ich war im höchsten Grad überrascht über das herrliche Lokal, so wie über die zweckmäßige Einrichtung desselben. Es bestand aus einer großen gothischen Halle, (früher eine Kirche,)7 war nach allen Seiten hin mit stufenartigen Erhöhungen für die Zuhörer versehen, davon eine Seite vom Orchester- und Chor-Personal eingenommen wurde. Im Hintergrund dieser Seite befand sich die Orgel, die in England in keinem Concertsaal fehlt, aber mit der herrlichen Einrichtung, daß der Organist nicht oben, sondern vorn, bey dem Director und den Solosängern sitzt. Das mitwirkende Personal bestand aus etwas mehr wie 400 Personen.8 Die Solosänger für das Oratorium waren, bis auf Mad. Stockhausen (eine Schweitzerin,) sämtlich Engländer. Sie bestanden aus 2 Soprane 2 Alten, 2 Tenören und 3 Bässen und waren so natürlich, daß ich mir nie bessere wünsche.9 Überhaupt wissen diese Sänger, großtentheils Kirchensänger der Westminsterabtey, und durch Händelsche Musik gebildet, der Oratorienmusik einen ganz andern(?) Geist einzuhauchen und ich schäme mich nicht es zu gestehen, daß mir, wie dem größten Theil des Publikums, im 2ten Theil meines Oratoriums mehre Male die Thränen in die Augen traten bey dem Seelenvollen und technisch so vollendeten Vortrage dieser Sätze. Eben so vollendet, kräftig und mit den zartesten Nuancen von Stärke und Schwäche, waren auch die Chöre und damit ich gleich alles lobe, was zu loben war, auch die Saiteninstrumente des Orchesters, besonders die Celli, die ich noch bey keinem Musikfest so warm und kräftig gehört habe. Die Blasinstrumente, mit Ausnahme der Trompeten, waren aber nicht so gut, wie wir sie gewöhnlich bey unsern großen Musikaufführungen haben. Da trat aber in den Chören die Orgel helfend ein und ich kann es nicht genug loben, wie umsichtig und wirkungsvoll der Organist sein mächtiges Instrument zu benutzen wußte. Es war der Organist der Westminsterabtey10, der das Oratorium fast auswendig wußte, weil er es dem Chor aus London einstudirt und den dortigen Solosängern oft begleitet hatte. Er kannte die meisten Ihrer Orgelkompositionen und sprach mir mit großem Lobe davon. – Das Musikfest begann am 17ten Abends mit einem Concert, in welchem ich mein Concertino „Sonst und jetzt“ vortrug. Es war ein feierlicher Moment, als ich vortrat und in dem durch Gas blendend hell erleuchteten Saal am Pulikum von mehr als 2000 Personen vor mir sah, die durch den jubelnden Empfang schon darthaten, wie bedeutendes sie von mir erwarteten. Allein ich hatte mich sorgfältig vorbereitet, meine Geige war im besten Stande, so konnte ich mit ziemlicher Gewißheit meines gänzlichen Erfolgs beginnen. Dieser war indessen doch weit über meiner Erwartung und der Beyfall während und nach dem Spiel wollte nicht enden. Es begeistert mich aber auch sehr, wie ich die ersten Töne meiner Geige hörte und fand, daß sie dem großen Raum vollkommen erfüllten.11 – An diesem Abend traten auch die anwesenden Italienischen Sänger auf, unter denen die Persiani und Tamburini die vergnüglichsten waren.12 Den meisten Beifall fand jedoch Madame Stockhausen durch ihre wunderschöne Stimme und seelenvollen Vortrag.13 – Am andern Morgen war das erste Oratorium, Israel in Egypten von Händel. Nun war der Concertsaal zur Kirche geworden. Eine ganz andere Stimmung herrschte im Publikum. Es wurde kein Beyfall gegeben und so oft Chöre zum Lobe des Höchsten vorkamen, wurden sie stehend angehört wie es in der Englischen Kirche Sitte ist. Abends das 2te Concert, inwelchem ich mit meinem früheren Schüler Blagrove meine erste Concertante spielte. Auch dieses Musikstück, besonders das Adagio mit den 3 Violoncellen und der letzte heitere Satz mit der brillanten Endung fanden großen Beyfall. Blagrove spielte vortrefflich.14 Er ist jetzt als der erste Englische Geiger anerkannt. Als 2tes Oratorium am andern Morgen folgte das Meinige unter dem Titel: Calvary: Es ging vortrefflich, obgleich unter meiner Direction nur eine Probe stattfand. Es war aber im voraus sehr sorgfältig einstudirt. Von Seiten der Sänger wurde es so vollendet gegeben, wie ich es sicher nicht wieder hören werde. Von Seiten des Orchesters fielen einige kl. Fehler vor, die aber so wenig störend waren, daß sie vom Publiko nicht bemerkt wurden. Die Wirkung schien mir die wahre und erwünschteste; es wurde mit stiller Andacht und tiefer Rührung angehört.15 – Als ich am Abend im letzten Concert erschien, um die Ouverture aus Faust, womit der 2te Theil15a begann zu dirigiren, wurde mir nun der Beyfall für das Oratorium, das am Morgen nicht laut werden durfte, in so reichem Maaße gespendet, daß es mich ganz in Verlegenheit brachte. Wohl 5 Minuten dauerte es, bis ich die Ouverture beginnen konnte. Von Gesangssachen meiner Komposition wurden gemacht: die große Arie der Kunigunde, das Terzett der 3 Schwestern aus Zemire u Azor, das Duett aus Jessonda „Schönes Mädchen“ und die Rose, letztere jedoch nur in der Probe, weil abends die Sängerin krank wurde.16 Eine Deputation des Comitée, die mich ersuchen ließ, das Concertino im letzten Concert zu wiederholen, mußte ich abschlägliche Antowort geben, da ich vom Dirigiren ds Oratoriums zu sehr geschwächt war. – Den 20ten Morgens zum Abschluß des Festes wurde der Messia[s] auf höchst vollendete Weise gegeben. Besonders waren es wieder die Solosänger, die gar nichts zu wünschen übrig ließen. – Eine Menge englischer Zeitungen besprachen das Musikfest und alle, die mir bis jetzt zu Gesicht gekommen sind urtheilen höchst günstig über das Oratorium wie über mein Spiel. Ich lege Ihnen die Times bey weil sie den kleinsten Raum einnimmt.17 Die Norwicher Zeitungen sind nämlich noch viel ausführlicher wie die Londoner. Ich bitte jedoch gelegentlich um Rücksendung des Blattes, weil es meiner Frau gehört. – So zufrieden, wie mit dem künstlerischen Erfolg, kann ich auch mit dem pecuniärem seyn. Da das Comitée mir ein Honorar von 150 Guineen (1076 Rth) zahlte, ohngefähr das dreifache was mich die Reise gekostet hat. – Für das nächste Musikfest in Norwich, welches in 3 Jahren stattfindet, ist bey mir ein neues Oratorium bestellt worden, wozu mir auch schon der Englische Text geschickt ist. Ich lasse ihn jetzt ins deutsche übertragen. Er heißt „der Fall Babylons“ und ist größtentheils aus Bibelworten zusammengesetzt. – Auch hat die Philharmonische Gesellschaft in London für nächstes Jahr eine Sinfonie bey mir bestellt und ich werde ihr daher wohl meine neue „Historische Sinfonie“ verkaufen. Vor einigen Tagen habe ich sie zum ersten Mal in einer Probe gehört. – Ihre neue Sinfonie werden wir sehr gern in einem unserer Abonnementsconcerte geben. Ich bitte daher um deren Übersendung.
Herrn Köhler die herzlichsten Grüße von mir. Theilen Sie ihm gefälligst diesen Brief mit. – Meine 5te Sinfonie wird nun verlegt werden. Schon vor der Reise habe ich die letzte Correktur besorgt. – Von Herzen Ihr L. Spohr.



Dieser Brief ist die Antwort auf Hesse an Spohr, 04.10.1839. Hesse beantwortete diesen Brief am 28.10.1839.
 
[1] Vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 07.09.1839.
 
[2] Vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 06.09.1839.
 
[3] Vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 24.09.839.
 
[4] Vgl. Marianne Spohr, Tagebucheinträge 9.-13.09.1839.
 
[5] John Marshall bekleidete das Amt des Mayors 1838/39 und 1841/42; es entspricht dem eines Bürgermeisters (vgl. G.K. Blythe, The Norwich Guide and Directory. Being an historical and topographical description of the City and its Hamlets [...], London 1842, S. 232). 
 
[6] Vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 13.09.1839.
 
[7] Zur St. Andrew’s Hall vgl. Blythe, S. 197-202. 
 
[8] Vgl. Marianne Spohrs Beschreibung der Konzertaufstellung (Tagebucheintrag 16.09.1839).
 
[9] Neben der erwähnten Sopranistin Margarethe Stockhausen waren die Solisten Charlotte Birch (Sopran), Maria Billington Hawes (Alt), John William Hobbs und Francis (Tenor), Michael Balfe (Bariton) sowie Edward Taylor und Henry Phillipps (Bass); eine zweite Altistin wird im ausführlichsten Aufführungsbericht nicht genannt (vgl. „The musician at Norwich. The Norwich Music Festival”, in: Monthly Chornicle 4 (1839), S. 355-368, hier S. 364ff.). In einem deutschen Bericht wird aus Mr. eine Mrs. Hobbes, also möglicherweise eine Altistin, was jedoch eindeutig der Angabe in Marianne Spohrs Tagebucheintrag vom 10. September 1839 widerspricht; außerdem führt dieser Bericht statt Taylor Young als Solisten (Gl., „Das Musikfest in Norwich”, in: Neue Zeitschrift für Musik 11 (1839), S. 123f. und 126f., hier S. 126f.). Falls es sich hier hier um Thomas Young handelte, wäre das Problem des fehlenden Alt gelöst, denn dieser war tatsächlich zwischen 1836 und 1848 an der Westminster Abbey als Altist angestellt (K.J. Kutsch und Leo Riemens, Großes Sängerlexikon 7 (42003), S. 5124). Edward Taylor schließlich erwähnt nur die Solisten der größeren Partien Stockhausen, Birch, Hawes, Hobbs, Balfe und Phillipps (Edward Taylor, „London, den 30. Sept. 1839”, in: Jahrbücher des Deutschen Nationalvereins für Musik und ihre Wissenschaft 1 (1839), S. 243f., hier S. 244). 
 
[10] James Turle.
 
[11] Dem Berichterstatter des Monthly Chronicle zufolge habe Spohr während der Aufführung aufgeregt („agitated“) gewirkt und der Eindruck wäre noch besser gewesen, hätte Spohr in der Probe am gleichen Tag nicht noch großartiger gespielt (vgl. „The Musician at Norwich“, S. 361). Vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 17.09.1839.
 
[12] Vollständiges Programm mit Nennung der übrigen italienischen Sänger in: „The Musician at Norwich“, S. 360.
 
[13] Der Berichterstatter des Monthly Chronicle erwähnt die Vorträge von Margarete Stockhausen bei diesem Konzert nicht.
 
[14] Vgl. ebd., S. 363.
 
[15] Zur Besprechung der Aufführung des Oratoriums im Monthly Chronicle vgl. ebd., S. 364ff.
 
[15a] [Ergänzung 02.12.2021:] „der 2te Theil“ über der Zeile eingefügt.
 
[16] Der Abdruck des Programms im Monthly Chronicle nennt nur die Ausschnitte aus dem Faust (vgl. ebd., S. 366).
 
[17] „The Norwich Music Festival. Thursday Afternoon”, in: Times (London) 21.09.1839, S. 5.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (21.04.2015).