Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287[Kleinwächter,L.:20

Prag den 22t April 1839.
 
Innigst verehrter Herr!
 
Immer konnte ich noch nicht dazu kommen, Ihnen so recht mit Musze einen Brief zu schreiben, und darin so ganz nach Herzenslust über Kunst und ihr hiesiges Leben zu berichten und zu plaudern, und ich sehe schon, dz1 mir auch heute kaum Zeit bleiiben wird, Ihre letzhin an mich gestellten Fragen zu beantworten. Seit lange her ist meiner zeit nicht so vielfach von Störungen und Beschäftigungen aller Art2 in Anspruch genommen worden, als itzt, und ich musz dieser auch um Entschuldigung bitten, wenn ich Ihr letztes Schreiben erst heute beantworte.
Nun zur Sache!
Offen und unter vier Augen gesagt, halte ich gar nichts von dem Unternehmen des Herrn K.3 und ich hätte Ihnen, auch wenn Ihr Brief nicht gekommen wäre, unaufgefordert – da ich hier hörte: Sie seien deshalb angegangen worden – meine Ansicht darüber mitgetheilt. So viel ich aus eigener Erfahrung, und von competenten Richtern weiß, ist H .K. blutarm musikalisch, und schon darum zur Errichtung und Leitung einer derlei Anstalt nichts weniger als geeignet. Uieberdieß begreife ich nicht, wie sich ein neues Institut der Art hier alten, und woher es die Mittel zur Subsistenz nehmen will. Das Conservatorium, obschon erhalten von den böhmischen Ständen muß in einem fort knausern, und die wenigsten4 absolvirten Zöglinge – namentlich Streichinstrumentalisten –, die bei Militärkapellen keine Unterkunft finden, wissen kaum zu leben. Zudem kann H. K. versichert sein, dz er bei der Rivalität des Conservatoriums nothwendig den Kürzern ziehen müsse. Alles was sich für das letztere interessirt, und überhaupt das ganze Volk der hiesigen Musiker wird dem H. K. Prügel in den Weg werfen und diesz um so lieber, als er selbst – ein etwas dünckelhafter dabei oberflächlicher Sohn Israels, zuglich Recensent über Prag in einigen auswärtigen Blättern – von den Wenigsten gern gesehen ist. Meines Wissens war H. K.s Project hier bis itzt nur ein Gegenstand der Moquerie. Bei solchen Umständen würde ich Niemandem am Allerwenigsten jemanden, für den Sie sich interessiren5, rathen, die angebotene Stelle anzunehmen. Herr K. findet im hiesigen Publicum gewiß sehr wenig, oder gar keine Unterstützung, die Stellung seiner Lehrer wäre sohin höchst unangenehm – noch(?) musz er, und ohne einen Stützpunkt, an dem sie einen sichern und ehrenvollen Rückhalt finden könnten. Die Violinstunden geben hier noch keine glänzenden Revenuen, die wenigen sind von Pixis und einigen seiner beszern Schüler besetzt, und Herr Mildner z.B. ein ausgezeichneter absolv. Schüler des Conservatoriums gibt nebenher Pianoforte Stunden, weil ihn der Violinunterricht nicht allein leben machen würde. Ob J. K. seine pecuniären Bedingungen einzuhalten Willens sein6 würde – Weiß ich nicht, da ich seinen Character in dieser Beziehung nicht kenne, so viel glaube ich aber mit Zuversicht voraus zu sehen, dz er für die Dauer die Bedingungen, so gering sie sind, selbst im besten Willen7 nicht werde einhalten können, da die ganze Sache bei solchen Umständen zerfallen musz. Auf Erfolg von Concerten ist nicht zu rechnen; erstens ist H. K. nicht der Mann, sie ordentlich zu instruiren und zu leiten, und wenigstens ist hier ohnehin Uiberfluß an Concerten aller Art, so dz an Reducirung nicht aber an Vermehrung derselben gedacht werden musz. Schreiben Sie mein ganz offenes und – wenn Sie wollen schonungsloses Referat nur meiner Gesinnung gegen Sie zu; ich intereszire mich weder für noch gegen eine Person oder ein Institut, mir gilt nur die Sache; H. K. hat mir nichts zu Liebe und nichts zu Leide gethan; ich weiß auch, dz sich unser Musiktreiben hier sehr vielfach reorganisiren liesze, nur erscheint8 mir die Person und der Plan des H. K. hiezu nicht als das rechte Mittel.
Nun zu etwas Anderen!
Ihr Quintett besitzen wir bereits, doch hat es der Vater9 nicht probiren können; im Clavierauszuge habe ich es bereits zu mehren Malen gespielt, und mich insbesondere den beiden letzten Sätzen erfreut. Auf die Duetten10 freuen wir uns hier sehr, das Duett was Sie in das Album 1839 zu dem Texte: „Jenseits“ von Bobrich schrieben11 hat hier ungemein angesprochen. Ihre Dmoll Sinfonie ist letzthin hier ziemlich gut zur Aufführung gekommen, von der Tonkünstlersocietät soll gegen Pfingten Ihr Oratorium: „Des Heilands letzte Stunden“ gegeben werden, worauf ich mich sehr freue. In einem Privatzirkel haben wir letzthin unter meiner Direction am Pianoforte Ihre letzte Hymne, so wie Ihr „Vater unser“ vor einer ziemlich groszen Gesellschaft gegeben. Die Sache fiel so gut aus, dz auf allgemeines Verlangen nächstens eine Wiederholung davon Statt haben soll.
Heuer hatten wir viele interessante Genüsze, Lipinsky12, dann Molique13 erfreuten uns mit ihren schönen Talenten, es war sehr interessant beide Virtuosen14 unmittelbar hintereinander zu hören. Itzt haben wir die 4 Müller15 hier, die – wie überall – ungemein gefallen. Letzthin spielten sie Ihr Dmoll Quartett (mit dem 1sten Satze im 3/2 Takt) mit einer beinahe fabelhaften Präcision und Virtuosität, und ernteten damit stürmischen Beifall.16
In Ihrem letzten Schreiben fragten Sie mich über meine Ansicht rücksichtlich der Oper von Dessauer. Die Sache erhält sich hier auf dem Repertoire, das Sujet schint die Leute anzusprechen.17 Die Musik hat viel schöne Einzelheiten; doch bin ich – so viel nach ein Mal Hören zu sagen ist – mit der Totalmischung derselben nicht einverstanden. Auber, Meyerbeer und diese Clique klingen fortwährend durch, und das ganze Wesen(?) bricht(?) und coquettirt mir zu viel à la francaise: Nun! es ist Mode und gefällt so! Indessen konnte das Teutschthum der Compositeur doch zu seinem Glücke nicht ganz verläugnen, und darum ist mir die Oper denn doch lieber als die Ragouts aus Paris. Die Ouverture ist gerade zu schlecht.
Von dem Nationalverein habe ich bereits gelesen, und habe auch dessen Statuten bei Dionys Weber, den die Ehre des ihm überschickten Diplomes18 sehr freute, durchgeblickt. Ich wünsche der Sache von Herzen das beste Gedeihen, es thut sehr Noth, dz Männer schreiben, itzt möchte man hinter den meisten Aufsätzen nur Schuljungen als Verfasser vermuthen.
Nun leben Sie wohl, wir sind hier Alle wohl, und erwiedern Ihnen und Ihrer verehrten Frau Gemahlin dankend die herzlichsten Grüsze!
 
Unwandelbar Ihr
Louis Kleinwächter



Dieser Brief ist die Antwort auf den derzeit verschollenen Brief Spohr an Kleinwächter, vermutlich 28.02.1839. Der nächste Brief dieser Korrespondenz ist Kleinwächter an Spohr, 07.05.1839.

[1] „dz“ = Abk. f. „dasz“.
 
[2] Hier gestrichen: „so“.
 
[3] Joseph Kinderfreund.
 
[4] „wenigsten“ über der Zeile eingefügt.
 
[5] Spohr vermittelte seinen Schüler Wilhelm Happ an die Kinderfreund‘sche Musikschule (vgl. Spohr an Happ, 28.02.1839).

 
[6] „Willens sein“ über der Zeile eingefügt.
 
[7] „selbst im besten Willen“ über der Zeile eingefügt.
 
[8] „er“ über der Zeile eingefügt.
 
[9] Ignaz Kleinwächter.
 
[10] Op. 108.
 
[11] WoO 98.
 
[12] Vgl. „Die Concerte des Herrn Karl Lipinski“, in: Bohemia 21.12.1838, nicht paginiert; zu Lipinski im Salon von Kleinwächters Vater Ignaz vgl. „Theaterbericht vom 19. bis 23. Jänner“, in: ebd. 25.01.1839, nicht paginiert; zu Lipinski in den Quartett-Soireen von Johann Peter Pixis vgl. A.M., „Das dritte Concert des Herrn Prof. Pixis“, in: ebd. 18.12.1838, nicht paginiert.
 
[13] Vgl. A.M., „Uiber das Concert des Herrn Molique“, in: Bohemia 20.01.1839, nicht paginiert; B., „Zweites Concert des Herrn Molique“, in: ebd. 22.01.1839, nicht paginiert; „Theaterbericht vom 19. bis 23. Jänner“, in: ebd. 25.01.1839, nicht paginiert und 27.01.1839, nicht paginiert; „Theaterbericht vom 26. Jänner“, in: ebd. 29.01.1839, nicht paginiert; „Theaterbericht vom 28. bis 30. Jänner“, in: ebd. 01.02.1839, nicht paginiert.
 
[14] „beide Virtuosen“ über der Zeile eingefügt.
 
[15] Vgl. A.M., „[Die Gebrüder Müller]“, in: Bohemia 12.04.1839, nicht paginiert; „Die Quartette der Gebrüder Müller“, in: ebd. 19.04.1839, nicht paginiert; „Theaterbericht vom 23. und 24. April“, in: ebd. 26.04.1839, nicht paginiert; „Die letzten zwei Quartettproduktionen der Gebrüder Müller“, in: ebd. 28.04.1839, nicht paginiert; „Theaterbericht vom 28. April bis 1. Mai“ und „Das Abschiedsquartett der Gebrüder Müller“, in: ebd. 03.04.1839, nicht paginiert.
 
[16] Vgl. „Die Quartette der Gebrüder Müller“, in: ebd. 19.04.1839, nicht paginiert.
 
[17] Vgl. „Theaterbericht vom 31. Jänner“, in: Bohemia 03.02.1839, nicht paginiert; „Theaterbericht vom 1. bis 3. Februar“, in: ebd. 05.02.1839, nicht paginiert.
 
[18] Ernennung zum Ehrenmitglied (vgl. „Verzeichniß der jetzigen Mitglieder des Vereins“, in: Jahrbücher des Deutschen Nationalvereins für Musik und ihre Wissenschaft 1 (1839), S. 4).
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (17.04.2019).