Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287
Hamburg d. 1 Februar 1839
Wohlgebohrner Herr
Hochzuehrender Herr Doctor.
In einem unserer Tageblätter von gestern enthielt ein Artikel aus Cassel1, den ich die Ehre habe Ew. Wohlgeboren, einliegend zu übersenden. - Der größte Theil unsrer Musicker & Dilettanten denen noch Ihr schönes Spiel und seelenvoller Vortrag im Gedächtniß, und finde die Manier des Ole Bull, können nicht begreifen, wie man dem charlatanischen Spiels dieses elenden Geigers, und an einem Orte wo ein Spohr lebt, so viele Loberhebungen geben kann – Cassel, wo man doch das gute von dem schlechten zu unterscheiden vermag. -
Bull überrascht im ersten Augenblicke durch seine Finesse, denn Ton hat er gar nicht, erstes Requisit eines Violinisten, er kann kein Quartett vortragen; auch sind auf seiner zurückgelegten Kunstreise, die Petersburger2, Stockholmer3 und Copenhagener4 Zeitungen tüchtig über sein Spiel und seine Composition hergefallen, sogar hat man in Copenhagen ein Brochure5 in deutscher Sprache geschrieben, worin er fürchterlich mitgenommen wird, wovon Sie gern ein Exemplar erhalten können; auch in unserm Correspondenten6 und andern Journalen7 ist sein Spiel sehr getadelt worden, und ich mache Sie mein H Doctor auf den Correspondenten Nr 1vom 8 Januar und N. 10. vom 12 Jan. aufmerksam8, die Sie dort wohl zu lesen bekommen können; ein paar interessante Artikel. – Auch ist er allenthalben mit einer Arroganz aufgetreten, daß nicht viel fehlte, in Petersburg eine Tracht Schläge zu erhalten. – In dieser Arroganz ist auch beiliegender Artikel abgefaßt, und ich wünschte, so wie viele Ihrer hiesigen Verehrer, daß Sie, mein geehrter Herr Doctor, gemeinschaftlich mit H. Hauptmann eine Recension über das elende Spiel und erbärmliche Composition dieses arroganten Ole Bull mir zusenden, welche ich dann ohnentgeldlich im hiesigen Correspondenten, von dem Redacteur meinem(?) Freund, einrücken laßen werde. Es hängt ziemlich von Ihnen ab, ob Sie ihren ganzen Namen oder Buchstaben intitales zeichnen wollen, und wenn Sie es wünschen, so gebe ich eine Besprechung, daß niemand erfahren soll, woher dieser Articel kömmt. - Das Schreiben aus Cassel im beiliegenden Blatte ist von ihm selbst redigirt; denn es ist derselbe Styl mit dem er unsere und alle auswärtigen Zeitungen, zu seinem Leben, überströmt hat. Ich glaube auch nicht, daß dieser Articel aus einer Cassler Zeitung genommen, sondern von ihm verfaßt und an seine hiesigen Gönner, den Musikalienhandlers Schubert & Niemeyer übersandt wurde; und aus dieser Gesichtspunkt verdient er ein Artikel von solchem Talente wie Herr Doctor Spohr. -
Ich wünsche, daß mein Sohn, der jetzt als Magister und Musikdirector der Schweden Universität in Helsinfors angestellt ist, einen kleinen Theil seiner Arroganz hätte, er ist leider aber zu blöd und zu bescheiden, so wohl in seinem Spiel als in der Composition, daß er niemals in jetzigen Zeiten Fortune machen wird. Ein jedweder spricht mit Achtung von seiner Kunst, die er seinem Lehrer verdankt, und Grund9 hat ihm noch bei seinem letzten Hierseyn im Sommer das schmeichelhafte Compliment gemacht, wo er ihr H Moll Quartett10 spielte, Lieber Pacius, Sie wissen selbst nicht, wie schön Sie spielen, auch habe ich nach Spohr, keinen Schüler wieder gehört, der dessen Schule so treu geblieben, als Sie. – Er hat bey seiner Abreise einen Sohn11 des H. v. Königslöw12, den Sie vielleicht kennen, ein guter Dilletant, als Schüler mit nach Helsinfors genommen. – Er ist mein Sohn, ich sollte ihn nicht loben, in technischer Fertigkeit steht er vielleicht manchem jungen Violinspieler nach, aber im Adagio übertrifft er sie alle, das ist auch das Urtheil aller die ihn gehört haben. - Er ist leider zur Melancholie und Hypochondrie geneigt, und sein Element in der Composition sind schwärmerische Lieder, die heute gemocht und morgen wieder verworfen werden. Er ist nie mit sich zufrieden. Er wünscht so sehnlichst seine Lehrer H Doctor Spohr13 & H. Hauptmann einmal wieder zu sehen, gegen denen er das größte Attachement14 hegt; auch wünsche ich es, vielleicht wird Ihre Aufmunterung ihn auf eine beßere Bahn lenken.
Genehmigen Sie, mein geehrter Herr Doctor, die Versicherung meiner vollkomensten Hochachtung
L. Pacius
Ness N. 7.
Sollten Sie in meiner und Ihrer Nahmen(???) Ansicht in Betref des Ole Bull eingreifen(???) so bitte ich nicht damit zu säumen, so ein arroganter Mensch verdient Züchtigung. –
Autor(en): | Pacius, Louis |
Adressat(en): | Spohr, Louis |
Erwähnte Personen: | Bull, Ole Grund, Eduard Hauptmann, Moritz Königslöw, Johann Friedrich Burghard von Königslöw, Otto von Pacius, Fredrik Schuberth, Julius |
Erwähnte Kompositionen: | Spohr, Louis : Quartette, Vl 1 2 Va Vc, op. 84 |
Erwähnte Orte: | Hamburg Helsinki Kopenhagen St. Petersburg Stockholm |
Erwähnte Institutionen: | Schuberth <Hamburg> Universität <Helsinki> |
Zitierlink: | www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1839020140 |
Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Pacius, 27.05.1828. Spohr beantwortete diesen Brief am 10.02.1839.
[1] Noch nicht ermittelt. – Spohrs Antwortbrief zufolge handelt es sich um den Bericht eines Kasseler Korrespondenten in einer Zeitung in Hannover.
[2] Noch nicht ermittelt.
[3] Noch nicht ermittelt.
[4] Noch nicht ermittelt.
[5] Noch nicht ermittelt.
[6] Noch nicht ermittelt.
[7] Noch nicht ermittelt.
[8] Noch nicht ermittelt.
[9] Da Friedrich Wilhelm Grund nie aus Hamburg fortzog, sicherlich dessen Bruder Eduard Grund.
[10] Vermutlich op. 84.3; denkbar wäre auch das Quatuor brillant op. 61.
[11] Otto von Königslöw.
[12] Johann Friedrich Burghard von Königslöw.
[13] „Spohr“ über der Zeile eingefügt.
[14] „Attachement, […] die Anhänglichkeit, Ergebenheit, Zuneigung“ (Friedrich Erdmann Petri, Gedrängtes Deutschungs-Wörtebuch der unsre Schrift- und Umgangs-Sprache, selten oder öfter entstellenden fremden Ausdrücke, zu deren Verstehn und Vermeiden, 3. Aufl., Dresden 1817, S. 48f.).
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (24.08.2021).