Autograf: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohnarchiv (D-B), Sign. Mus.ep. Hauptmann, M. 18
Druck 1: Moritz Hauptmann, Briefe von Moritz Hauptmann, Kantor und Musikdirektor an der Thomasschule zu Leipzig an Ludwig Spohr und Andere, hrsg. v. Ferdinand Hiller, Leipzig 1876, S. 172-176
Druck 2: Edward Speyer, Wilhelm Speyer der Liederkomponist 1790-1878. Sein Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen dargestellt von seinem jüngsten Sohne, München 1925, S. 204-208

Lieber Herr Kapellmeister!1
 
Nachdem ich mir schon eine Zeitlang den Kopf zerbrochen was aus der frühern und mittlern Zeit für ein historisches Konzert wohl zu wählen sei, scheint, mir daß das der Weg nicht ist das Passende zu finden; nicht den Nahmen die uns geblieben müsse man folgen, sondern den Werken, die sich lebendig erhalten haben. Von den Niederländern, von den alten Italienern, von Palestrina bis auf die Neapolitaner Leo, Durante, Scarlatti ist viel vorhanden und überall(?) zu haben, jedoch nur reine Vocalmusik; die Oper der Letztern, so wie die Kirchen- und Kammermusik mit2 Instrumental-Begleitung sind verschwunden, nur Einzelnes vielleicht in alten Bibliotheken noch zu finden. Mit der Oper dürfte man schwerlich über Gluck hinausgehen. Ich kenne Sachen von Lulli und Rameau, sie haben mich sehr interessiert, in Lullis Roland war ich eine Zeitlang etwas verliebt, und habe mir ganze Scenen daraus in unsre Notenschrift übersetzt, um sie bequemer vor Augen zu haben; aber alles was die gewollt, ist in Gluck concentrirt und zur Reife gediehen. Gluck hat, nachdem er den italienischen damals üblichen Bravourstyl verlassen, die vorgefundene französische Oper gereinigt und vervollkommt; sie sagte seinem neuen deklamatorisch-musikalischen Prinzip aufs Beste zu. Einem großen Publikum, das doch am Ende auch in einem solchen Konzert musikalische befriedigt sein will, würde ich von Lulli und Rameau nichts zumuthen mögen – es ist in die Länge eine unerträglich langweilige Psalmodie, und an zu kleinen Proben wieder nicht genügend die Art kennenzulernen. Von allen den Opern ferner die in der Hildegard von Hohenthal3 als ewige, unerreichbare Meisterwerke besprochen werden, in den 1760-1780ger Jahren, ist schon zu unsern Ohren kein Ton mehr gekommen, zudem sind dieselben, fast nur aus Rezitativ und Arien bestehend für Sänger berechnet wie wir gegenwärtig wenigstens in Deutschland keine haben. Was den Stil dieser ältern Oper4 belangt, so ist er im Idomeneo von Mozart aufs Beste repräsentirt, und zwar auf die Weise, wie die ägyptischen Alterthümer in den griechischen Nachbildungen derselben, ohne ihr Eigentümliches zu verlieren, sich gefälliger darstellen als in den Originalen, das normale in einer vollendeteren Form. Ich würde also, was die ältere Oper betrifft, rathen bei Gluck u Mozart stehen zu bleiben. Beide zwey Deutsche, der eine aber Repräsentant der französischen, der andere der italienischen Oper. (Wie Palestrina, obgleich Italiener, die Niederländer repräsentieren könnte in eben dem Sinn wie oben.) Diese beiden sind auch ohne Zusatz, ohne besonderes Arrangement zu executiren, während die älteren, die französischen Partituren namentlich fremde Saiten- und Blasinstrumente enthalten. Für den deutschen Kirchen- und Oratorienstil ergeben sich die Deutschen S. Bach und Händel von selbst. Zu jene(?) Zeit waren noch viele andere mit Ruhm genannt, wie: Telemann, Kaiser, Fux u.m. Der Ruhm, mit jenen genannt worden zu sein, soll ihnen auch bleiben, es ist aber das Beste jener Epoche in den beiden auch enthalten, mithin das, was die Zeit am durchgreifendsten darstellt. Für einen Verein von Musikern und Musikverständigen würde es allerdings interessant sein, statt dieser bekannten Meister etwas von jenen kennenzulernen, die zu jener Zeit in fast gleich hohen Ehren standen und nun in ihren Werken doch ganz verschollen sind – einem großen gemischten Concertpublikum ist aber dieses Interesse fremd, wie jene Nahmen; seinem Gefühle u Bedürfniß wird besser zusagen das Vollendete, Beste einer jeden Zeit, was sich eben dadurch von selbst herausstellt, indem es sich bis auf unsre Tage erhalten hat, nicht bloß in Bibliotheken als litterarische Seltenheit, sondern als zur Aufführung geeignete Musik. Um aber auf die frühere Zeit zurückzukommen, so würden die Niederländer für eine solche Produktion wohl ganz zu übergehen sein. Palestrina vereinigt all ihr Gutes in sich, mildert die Härte und durchdringt es mit einer gewissen Anmut, die es unserm jetzigen musikalischen Sinn annehmlicher macht. Leicht könnte aber auch Palestrina noch zu fremd, für ein großes Auditorium zu wenig ansprechend gefunden werden, dann möchte ich einen spätern italienischen Meister, L. Leo, und zwar dessen 8stimmiges Miserere zur Aufführung vorschlagen, und zwar mit den Abkürzungen wie wir sie bei einem ähnlichen Concert hatten. Diese Musik ist unsern heutigen Zuhörern gerade alt genug und ist doch, wie wirs hier erfahren haben, von recht großer musikalischer Wirkung. Dann wäre freilich das älteste kaum über hundert Jahr alt und das Geschichtliche sehr zusammegedrängt, und doch würde man den Anfang für ein Musikfest schwerlich viel weiter zurücksetzen dürfen, und auch hier nur eben in einer Gattung nehmen, die zu der Zeit ihre ganze Ausbildung erreicht hatte, nicht etwas in Instrumentalmusik oder Gesangmusik mit Instrumental-Begleitung. Zwischen S. Bach und Haydn ist wieder eine Stelle in der Geschichte der Musik, die5 nur mit Nahmen ausgefüllt ist, zu ihrer Zeit hochberühmt, von denen sich aber nichts lebendig erhalten hat. Diese Toten müßte man wohl auch ruhen lassen. Was Emanuel Bach für die Instrumentalmusik getan, besonders in Absicht auf die Ausbildung der Form der Musikstücke, ist doch auch mehr vorbereitend gewesen, und hat erst in J. Haydn die vollendete Gestalt erhalten. Seine Gesangmusik gehört schon größtentheils dem langweiligen Kantatenstil an – warum sollte man einem Auditorium, das sich musikalisch ergötzen will, dergleich auftischen.
Ich habe mich mit vielem Interesse mit der Musik der verschiedensten Zeiten beschäftigt, und war ich nur einmal recht hineingelebt in irgendeine Periode oder einen Hauptmeister, so habe ich dann die größte Freude daran gehabt und nicht begreifen können wie so schöne Sachen andere theilnahmlos u kalt lassen konnten die mich hoch entzückten; kam ich dann später wieder zu solcher Musik, weniger vorbereitet, so sprach sie mich selbst in weit geringerem Grade an, das warme Gefühl dafür wurde nicht sogleich wieder angeregt – das mindert aber den Glauben an ihre Schönheit, wie ich sie einmal empfunden habe, nicht im geringsten. Wäre Mozart im 16t Jahrhundert in Rom geboren, er hätte wie Palestrina geschrieben; wäre er im 17t Jahrhundert in Venedig geboren, er hätte wie G. Gabrieli geschrieben, würde er jetzt geboren, er würde anders schreiben als vor sechzig Jahren und derselbe große Komponist doch zu alle Zeiten sein. Das eigentlich würksame im Kunstwerk ist immer die Persönlichkeit des Künstlers, aber ein fremdes Kostüm müßen wir erst gewohnt werden und in der Musik, die nur6 das Innere, den Gemützustand ausdrücken soll, wird jeder Beigeschmack, der nur irgend an eine Mode erinnert, gleich unerträglich, darum veraltet Musik so bald. - Entschuldigen Sie gütigst die Unordnung u Formlosigkeit dieses Gutachtens, das, wie ich mit Bedauern sehe, so wenig geworden ist was Sie wünschten, indem es fast nur in Negationen und Limitationen besteht. Ich habe nur ein einzig Musikstück zur Repräsentation der Ital. Kirchenmusik genannt weil ich dieses eben vorzüglich geeignet finde. Was von Gluck, Händel, Bach, Haydn, Mozart zur Produktion zu wählen sein würde, darüber wollte ich mir keine Angabe anmaßen, auch war hierüber die Frage wohl weniger, als aus welchen Zeiten u von welchen Meistern, und da ist meine Meinung: für das große Publikum nicht aus zu entfernten Zeiten und aus den näher liegenden nur das Blühendste, Frischeste, nur Hauptwerke der größten Künstler. Nichts Mumienhaftes nichts vertrocknetes und abgebleichtes – denn es soll das Herz musikalisch ansprechen.
 
Mit herzlicher Ergebenheit
M. Hauptmann.
 
d. 27/12 38.



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Hauptmann, 03.11.1836. Das nächste erhaltene Schriftstück dieser Korrespondenz ist ein Zeugnis von Spohr für Hauptmann, 17.03.1842.
Spohr legte diesen Brief seinem Brief an Wilhelm Speyer vom gleichen Tag bei. Der Brief scheint mit den Briefen von Spohr an Speyer zusammen überliefert worden zu sein; dies ist vermutlich auch der Grund, dass Druck 1 Speyer als Empfänger angibt.
 
[1] Über der Anrede befindet sich von der Hand Wilhelm Speyers die Anmerkung: „Spohr hat mir diesen Brief seines interessanten Inhalts wegen zukommen lassen. WmSp.“
 
[2] Hier gestrichen: „Beglei“.
 
[3] Wilhelm Heinse, Hildegard von Hohenthal, hrsg. v. Heinrich Laube (= Sämtliche Werke 3), Leipzig 1838.
 
[4] Hier gestrichen: „b“.
 
[5] Hier gestrichen: „wieder“.
 
[6] „nur“ über der Zeile eingefügt.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (31.07.2017).