Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287[Kleinwächter,L.:19

Prag den 4 December
1838.

Hochverehrter Herr!

Vergeben Sie mir, wenn ich Ihr freundlich Liebes vom 29t October nicht sogleich beantwortete, allein ich wollte nur die Aufführung Ihres „Alchymist“ abwarten, um Ihnen unter Einen darüber berichten zu können. Die Besetzung werden Sie aus dem Zettel, den ich beizulegen mir die Freiheit gebe, entnehmen können. Die Hauptrollen sind fast sämmtlich mit Ihnen bekannten Personen besetzt, bis auf Herr Kunz. Dieser ist zwar noch nicht lange am Theater, jedoch im Besitze einer sehr schönen Stimme – einigermaszen à la Poeck – recht fast, und singt namentlich den Ramiro gar nicht übel. Uiberhaupt war die Verwandlung des Gesangpersonals nach Möglichkeit bestellt, und insbesondere wären Sie mit den Damen Podhorsky und Grosser selbst gewiß zutrieben gewesen.
Kapellmeister Skraup gab sich mit dem Einstudiren sehr viele Mühe – ich war selbst während 3 Proben davon Zeuge – und ich fand auch, dz1 die feinern Nuancirungen weit beszer als sonst im Orchester hervortraten. Die Spanierin und der Tanz war jedoch mager bestellt – comme toujours chez nous – was dem Effekt auf das grobe Publikum immer zu nahe tritt.
Die Oper wurde seit ihrer ersten Production bis itzt einmal wiederholt, und ich wartete absichtlich die Reprise ab, um über die Wirkung der Oper auf das Publicum bestimmten referiren zu können. Leider fand ich die Aufnahme nicht so, wie es im Interesse der Kunst, und nach der Meisterschaft des Werkes zu wünschen und zu erwarten gewesen wäre. Die Herrlichkeiten und angreifenden Schönheiten sind in dieser Oper so ins Feine und Zarte gestaltet dz der gemein verwöhnte Sinn unserer itzigen Opernbesucher hie – wenigstens die ersten Male – schwer oder gar nicht herausfindet. So gieng es auch dem Referenten unserer Bohemia, welcher der Oper Gründlichkeit, Gelehrsamkeit und Gemüthlichkeit im gröszten Masze zugesteht, jedoch von dramatischen Wirkungslosigkeit faselt.2 Vergeben Sie dz ich Ihnen die Facta so ungeschminkt vorbringe; allein Sie stehen einerseits zurück, und kennen anderer Seits die Welt zu gut, um nicht selbst zu wissen, dz – wie die Actien der Musikrichtung im Walke(???) itzt stehen – Ihre Opern nur dem gewählten Publikum angehören. Jedoch muß ich3 selbst einen Punkt hervorheben, der mir der allgemeinen Aufnahme der Oper entgegen zu stehen scheint. Der Dichter gab Ihnen in derselben fast gar keine Gelegenheit, durch Chormassen, oder wenigstens durch gröszere Ensemble-Stücke z.B. Quartette, Quintette udgl. zu wirken, und dieser Gegensatz; namentlich4 feurige Finales, ist5 es, welchen – wenigstens itzt – das Publikum insbesondere goutirt. Mir selbst fiel es – mit Rücksicht auf den Effect – auf, warum der Dichter den 2ten Act so sonderbar schließt, und statt einem Ensemble-Schluß die Haupt-Personen6 nacheinander von der Bühne wegzieht, so dz am Ende Ramiro allein übrig bleibt. Hier wenigstens – in Prag – wirkte diese Anordnung der Handlung sichtlich unangenehm auf das Publikum, und bei dem Hauser – der Mehrzahl – wirkt dann eine derlei Störung auch auf den Geschmack an der Musik zurück. Die Elite setzt sich freilich über solche Zuthat hinweg, und schwelgt in den Herrlichkeiten und dem Zaubergarten der Harmonien, die ihr namentlich in dieser Oper so reich und üppig geboten werden!
Die beiden Arien der Inez, die der Paola, ihr Duett mit Ramiro, das Gebet des Vasquez, so wie auch das Lied der Inez mit dem unterbrochenen Zwischengesang der Paola fanden besondern Anklang auch im Allgemeinen; die Ouverture aber ward stürmisch applaudirt und mußte bei der 1ten Production wiederholt werden. Bei der zweiten Aufführung war das Publikum viel kleiner, aber desto mehr gewählt, der Beifall war auch weniger und ungetheilter, und ich bin wirklich begierig, ob sich die Oper bei uns auf dem Repertoir halten wird. Auf jeden Fall muß sie aber erst das grand public zu sich hinaufziehen und dz die Last die hinuntergezogen werden muß, bis zu einem onus 1000 camelorum7 herangewachsen ist, möge die Kraftgenies Italiens und Frankreichs beim Himmel verantworten.8 Sollte sich diese Erwartung realisiren, so wird Niemand freudiger sein als ich, dem dann die Gelegenheit bleibt die wunderschöne Oper noch oft zu hören, und daran entzückt und erhaben zu werden. Die Resultate werde ich Ihnen in dieser Beziehung dazu berichten.
Für Ihre so gütige Beurtheilung meines Quartettes muß ich Ihnen innigst danken. Welche Freude und Aufmunterung mir Ihre Anerkennung gewährt, kann ich Ihnen kaum sagen; seien Sie versichert, dz es mein erstes unabläsziges Streben bleiben wird, Ihrer guten Meinung von mir nie unwürdig zu werden.
Seit der Abfertigung meines Concourses9 habe ich die beiden letzten Sätze meines 2ten Quartettes in der Skizze fast fertig und hoffe nun bald, an die Ausarbeitung der Partitur gehen zu können.
Für Ihre mündlichen Wünsche – meinen juridische Laufbahn betreffend – bin ich sehr verbunden, jedoch scheint mir nicht, dz dieß mal aus Reussiren zu denken ist. Mit meinem Elaborat bin ich zwar nicht unzufrieden, allein die Circumstanzien sind nicht von der Art, dz auf ein Gelingen zu rechnen wäre. In jedem Falle habe ich für meine künftige Apertur ein Meritum gewonnen, und einen Schritt näher gethan. Vielleicht mache ich nächstens einen Abstecher nach Wien, um am Quell der Gnade die Sachlage näher zu sehen, das Weitere ist dann noch zu erwarten.
Zu erzählen habe ich vergeszen, dz ich vor mehren Wochen mit Robert Schumann einen derben Streit – wegen den albernen Ausfällen in seiner Zeitung auf Mozart und Haydn10 – gehabt habe. Der Neuromantiker wird mich und meine Sachen in Hinkunft wahhrscheinlich nicht besonders lieben; allein immerhin! ich konnte die Gelegenheit, die mir seine Reise durch Prag geboten, nicht vorbeigehen lassen, ohne ihn nicht meiner Meinung über sein verrücktes Treiben zu sagen. Sagen Sie mir doch, ob und was Sie mit ihm in Leipzig vorigen Jahres verhandelt? es ist mir gar zu interessant!
Wie sind Sie mit Kittl‘s Sinfonie zufrieden? Es soll mich sehr freuen, von Ihnen bald etwas hierüber zu vernehmen. Wie steht es mit Dessauer‘s Oper? Nächstens kommt sie hier in die Szene.
Von meinen Compositionen wird – wie ich höre – erst itzt etwas erscheinen, was bei dem Riesengeschäft von Breitkopf und Härtel wohl nicht anders gehen konnte; ich bin sehr froh, dz ich bei dieser Handlung angekommen bin, und will gerne warten. Sollten Sie vielleicht an Breitkopf gelegentlich schreiben, so würde ich sehr bitten, etwas von meinem Quartett zu erwähnen, ich würde es gerne verlegen lassen.
Schlüszlich noch meine und unserer Aller inngisten Wünsche zum Jahresende für Sie und die Ihrigen! Ich selbst bleibe mit aller Liebe und Anhänglichkeit treuergeben Ihr Louis Kleinwächter



Dieser Brief ist die Antwort auf den derzeit verschollenen Brief Spohr an Kleinwächter, 29.10.1838. Spohrs Antwortbrief vermutlich vom 28.02.1839 ist derzeit ebenfalls verschollen.

[1] „dz“ = Abk. f. „dasz“.

[2] „Theaterbericht vom 22. und 23. November“, in: Bohemia 25.11.1838, nicht paginiert; vgl. auch „Theaterbericht vom 26. bis 28. November“, in: ebd. 30.11.1838, nicht paginiert.

[3] Hier gestrichen: „doch“.

[4] Hier über der Zeile zwei noch nicht entzifferte Buchstaben eingefügt.

[5] „ist“ über gestrichenem „sind“ eingefügt.

[6] „Haupt-“ über der Zeile eingefügt.

[7] „Es ist natürlich, daß die Gesetztessammlungen nach und nach massenhaft anschwellen und niemand wird sich darüber verwundern, daß Justinian die Masse von Gesetzen und sonstigen gültigen Rechtsvorschriften, welche vor seiner Compilation im römischen Reich existirten, ein onus camelorum nannte“ („Die neu revidirte Sammlung der Gesetze, Dekrete und Verordnungen der Republik Bern“, in: Zeitschrift für vaterländisches Recht 7 (1845), S. 108-112, hier S. 108). - „onus camelorum“ = lat. „Last der Kamele“.

[8] Hier ein Wort gestrichen.

[9] Vgl. Kleinwächter an Spohr, 18.09.1838.

[10] Noch nicht ermittelt.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (17.04.2019).