Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Wiesbaden am 12ten November 1838.

Endlich, mein innigst verehrtester Freund und Gönner! Kann ich von Ihner abermahls so freundlichen Erlaubniß Gebrauch machen, Sie von meiner Dortkunft einige Tage zuvor zu benachrichtigen. Nachdem ich am 14ten das Netto 41te Bad hier werde genommen haben, will mein hiesiger Arzt, Geh. R. Paez, mich alsdenn endlich ziehen lassen und werde ich Sonnabend, den 17ten d.M., wohl kurz vor Anfang des Theaters, dort eintreffen.
Können Sie mir alsdenn, ohne Ihre Störung anderer Pläne, am Sonntag Morgen das Quintett und nun auch dessen beyde letzten Sätze noch ein Mahl zu hören geben, dessen beyde ersten Sätze ich am 7ten v.M. so glücklich war bey meinem gleichwohl nur 2stündigen Aufenthalte in Cassel bey Ihnen zu hören, so würde mir das allerdings mich1 um so erfreulichern und interessantern Mitgift in die ländliche Heymath seyn, als ich seit jener, den Anfang meines Spätherbst-Ausfluch’s auf eine so anziehende Weise begrüßenden, Morgen bey Ihnen, die ganze Zeit über nicht eigentlich gediegenes von Composition und Ausführung zugleich wieder gehört haben; so viel Opern ich auch inzw.(???) hier, in Mainz, und in Frankfurt besucht habe.
In Maynz lernte ich das sehr schöne neue Haus [bey dem ich aber doch einiger zu erinnern finde. –]2 wenn gleich größer als das Frankfurter, – bey der Gelegenheit kennen, daß ich3 die Sabine Heinevetter, – im Begriff mit ihrer jüngeren Schwester zu einem Engagement nach Wien abzugehen, – daselbst den Romeo in Montechi u Capuletti geben sahe. Ihre Stimme ist noch immer bezaubernd; u in Leichtigkeit u Klarheit der im Pianissimo gehaltenen, auch mit Mäßigung benutzten Coloraturen, – in den fernen Tönen dem Flüstern der Clarinette ähnlich, – hat sie noch sehr gewonnen. Auch war ihr Spiel vortrefflich. Nur einige Mahle so fortgerissen, daß der Gesang in etwas darunter litt. In Frankfurt glaubte ich in ein Paar mir neuen Opern zu bemerken, daß solche Oper u in Sonderheit auch das orchester wieder mehr vorwärts gegangen sey. Nachdem ich aber eine mir schon bekanntere u auch in Frankfurt schon früher öfter gehörte Oper daselbst gesehen, – Robert den Teufel, – fand ich, daß doch wohl nur der Reitz der Neuheit der anderen Opern, u einige besser gegebene Gast-Rollen den Hauptantheil an jener Meinung gehabt haben mogten; denn ich fand die Ausführung von Robert dem Teufel selbst noch ungenügender, als sie mir vor 2 Jahren den Eindruck hinterlassen hatte! – u ich will gestehen, diese Oper nun dick satt zu haben! – Hier habe ich denn auch das neue Buch der Oper zu Mozart’s Cosi fan tutte kennen lernen, – Die Guerilla’s von Anton.4 – Wenn gleich die Ausführung sehr natürlich nur mittelmäßig war: zu entzückten mich durch diese Mozartschen Harmonien mehr, als alle die übrigen in dieser Zeit gehörten neueren Opern; u um so mehr, als mir auch diese Oper noch neu war! – Ich hörte sie nochnie zuvor, und kann daher um so weniger vergleichen, in wie weit sie durch das ihr gegebene neue Buch der Oper gewonnen oder verloren hat. In jedem Falle aber ist dieses neuere Sujet zu sehr schleppend; und nothwendig langweilig für den, der mehr sehen als hören will! – Daher ich denn auch, zu meinem Ingrimme, ab und an die Seufzer „wie Langweilig!“ – allda zu hören hatte unten mir wo Mozart’s Melodien und Harmonien mich gänzlich vergessen ließen, ob und was man auf der Bühne sehe! – Auch ist die Aufgabe, die Dichtung der Composition anzuschmiegen, wenigstens im Detail unleugbar wohl gelungen zu nennen; – und erhöhte den Gedanken, daß die Composition früher vorlag als die Dichtung, allerdings das Interesse für die letztere. –
Sollte mein Reise-Glück mich um so sehr begünstigen, daß Sonntag Abend, den 18ten, gerade eine Ihrer Opern dort gegeben würde: so würde ich erst Montag in der Frühe von dort weiter reisen, was ich entgegengesetzt sonst für Sonntag Mittag beabsichtige. –
Ihnen wie Ihrer liebenswürdigen Frau Gemahlin mich dem einstweillen erneuert so innig verehrungsvoll empfehlend, als

ganz gehorsamst CFLueder



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Lueder an Spohr, 22.03.1838. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Lueder an Spohr, 04.01.1839.

[1] „mich“ über der Zeile eingefügt.

[2] Ausdruck in Klammern am linken Seitenrand eingefügt.

[3] „ich“ über der Zeile eingefügt.

[4] Die Guerillas. Komische Oper in zwei Aufzügen von J.D. Anton. Zur gänzlich beibehaltenen Musik der Oper: „Cosi fan tutte“ von W.A. Mozart, Darmstadt 1838.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (27.11.2020).