Autograf: Spohr Museum Kassel (D-Ksp), Sign. Sp. ep. 1.2 <18380419>
Beleg: Autographen. Historische Autographen, literarische Autographen, Musiker, Schauspieler und bildende Künstler, Stammbücher. Versteigerung am 20., 21. und 22. Oktober 1926 (= Katalog Liepmannssohn 48), Berlin 1926, S. 174f.

Sr. Wohlgeboren
dem
Herrn Dr. Louis Spohr, Kurfürstl.
Hof-Kapellmeister und Ritter
Cassel
Kölnisches Thor
 
franco.0
 
 
Breslau d. 19t April 38.
 
Mein hochgeehrter Herr Kapellmeister!
 
Wenn ich auf Ihr letztes so liebes Schreiben bis jetzt noch nichts erwiederte, so lag dies lediglich daran, weil ich Ihnen gern einen bestimmten Entschluß, unser Zusammentreffen in diesem Sommer anlangend, mittheilen wollte. Leider kann ich dies heute auch noch nicht, und ich schreibe, damit Sie mich nicht etwa der Nachlässigkeit anklagen. Ein Zusammentreffen in Carlsbad, wo ich noch nicht war, könnte das wahrscheinlichste sein; Frankfurt und das Liederfest muß ich, so leid es mir thut, unberücksichtigt lassen1, und da Sie nach Carlsbad doch wahrscheinlich Ihre Violine mitnehmen, und allenfalls ein Clavier auch aufzutreiben sein wird, so ist dies, ganz abgesehen, von sonstigen Vergnügungen1a, schon für mich Grund genug, alles aufzubieten, um dorthin reisen zu können. Sobald Sie den Tag Ihrer Abreise festgesetzt haben, bitte ich, mir es gütigst mitzutheilen.
Ihr schönes Duett (Nachklänge aus Dresden etc.)2 habe ich mit Schön, (der sich Ihnen bestens empfiehlt) schon mehrmals gespielt, wir haben uns sehr ergötzt, und ich danke Ihnen nochmals herzlich für die Ehre der Dedikation. Seit ich Ihnen nicht schrieb ist hier manches Musikalische passirt. Vieuxtemps war hier, und spielte mit Beifall3, ich bewunderte seine Sauberkeit und Fertigkeit, damit war es aber aus. Das Übrige sprach mich nicht an. Henselt entzückte uns einigemal durch seine Kompositionen und sein überaus meisterhaftes Spiel4; auch Lipinski hörte ich, aber nur privatim. Er legte gehörig los, manchmal etwas stark, doch spielte er auch vieles schön und weich. Von Ihren Kompositionen haben wir im Laufe des vorigen Winters wieder viel gehört. Mantius gab einmal den Nadori sehr schön, auch Faust kam 3 mal daran.5 In den Konzerten die Sinfonien, im Künstlervereinsquartett das es dur Quintett und double Quatuor Nr. 3 in e moll, was ich so glücklich war von Ihnen zu hören.
Am meisten wurde in der Osterwoche musizirt.6 Im Dom die Lamentationen von Palästrina mit Responsorien für Solo, Chor und Orchester vom seligen Schnabel, die ein Abbild seines frommen Gemüths sind.
Mittwochs war in unserer Hauptkirche St. Bernhard die gestiftete Musik. Ich eröffnete den Gottesdienst mit der Sopran- und Tenorbearbeitung des Chorals „Jesu deine tiefen Wunden“ auf der Orgel, worauf die Gemeinde mit Orgel 2 Verse sang; sodann führte der kirchliche Singverein mit Orchester Lamentationen von Durante (1751) unter Siegerts Leitung aus. Hierauf Gebet von der Kanzel, dann Choral: „Herzlich lieb hab ich dich, o Herr“ 1ter Vers von 4 Solosängern, bearbeitet von Hermann Schein, 2ter Vers für Chor von Seb. Bach, 3ter Vers nach unserem Choralbuch, vom Singverein, der Gemeinde, 4 Posaunen und 2 Orgeln, (der Text war überaus prächtig, u. bedingte eine solche Kraft) welches von großer Wirkung war, die großen Bässe der Orgel rollten wie Donner im Gewölbe entlang. Dann wurde noch eine doppelchörige Motette von Seb. Bach (in a dur) gesungen, und zum Beschluß spielte ich noch eine neue Fuge nebst Einleitung von mir.
Gründonnerstag war in der Aula die Schöpfung von 400 Mitwirkenden vortrefflich zu hören, und Charfreitag in St. Elisabeth der Tod Jesu (theilweise sehr veraltet).
Am ersten Festtage in St. Bernhard Mozarts Kantate: Dir Herr der Welten und am 2ten den 2ten Theil aus Davidde6a penitente von Mozart6b überaus schön gegeben. Sie können hieraus ersehen, daß auch in unseren evangelischen Hauptkirchen der musikalische Theil des Gottesdienstes mit großer Wichtigkeit behandelt wird.
Die Blase-Instrumentbegleitung Ihres neuen „Vaterunser“ in eine Orgelbegleitung umzuwandeln wird mir sehr angenehm sein.7
Vergessen Sie nur nicht mir zu berichten, ob Sie Musikalien und Violine mit nach Carlsbad nehmen, vielleicht ließe sich auch ein Quartettchen arrangiren. Mein Kollege Köhler muß auch nach Carlsbad, vielleicht reisen wir dann zusammen.
Herzliche Grüße an all die Ihrigen.
 
Mit ausgezeichneter Hochachtung und Verehrung
Ihr ergebenster
Adolph Hesse.
 
NS. Hauser ist in Rom und Biller8 gestorben. Naß hat sich in Dresden eingebürgert.



Dieser Brief ist die Antwort auf Spohr an Hesse, 28.02.1838. Der nächste Brief dieser Korrespondenz ist Hesse an Spohr, 11.05.1838.
 
[0] [Ergänzung 18.10.2021:] Auf dem Adressfeld befindet sich rechts oben der Poststempel „BRESLAU 6-7 / 19 / 4“, rechts über dem Adressfeld befindet sich der Stempel „24 APR 183[8]“.
 
[1] Für das Sängerfest in Frankfurt am Main schrieb Spohr auch das im Folgenden noch erwähnte Vater Unser für zwei Männerchöre und Orchester, WoO 70.
 
[1a] „sonstigen Vergnügungen“ über gestrichenem „Ihrer und der lieben Ihrigen Gesellschaft“ eingefügt.
 
[2] „Nachklänge einer Reise nach Dresden”, op. 96.
 
[3] Vgl. „Breslau, vom 17. Januar”, in: Neue Zeitschrift für Musik 8 (1838), S. 36.
 
[4] Bei diesem Aufenthalt spielte Henselt nur in einem privaten Kreis (vgl. Maria Zduniak, „Adolph Henselt in Breslau”, in: Adolph Henselt und der musikkulturelle Dialog zwischen dem westlichen und östlichen Europa im 19. Jahrhundert, hrsg. v. Lucian Schiwietz (= Edition IME I,14), Sinzig 2004, S. 105-115, hier S. 107).
 
[5] Zu Mantius Breslau-Aufenthalt vgl. „Breslau”, in: Iris im Gebiet der Tonkunst 9 (1838), S. 56.
 
[6] Vgl. hierzu: [August] K[ahlert], „Historischer Bericht über sämmtliche Musik-Aufführungen in Breslau für den Winter 1837-1838”, in: Allgemeine musikalische Zeitung 40 (1838), Sp. 389-392 und 407f., hier Sp. 407f.
 
[6a] [Ergänzung 18.10.2021:] Hier gestrichen: „penikente“.
 
[6b] [Ergänzung 18.10.2021:] Am Wortende gestrichen: „s“.
 
[7] Vgl. Vorbrief.
 
[8] Vgl. hierzu: „Als der Verfasser bei seiner ersten Reise nach Kassel den Kapellmeister Spohr besuchte, war die erste Frage dieses großen Meisters an ihn: ,Lebt Herr Biller noch? Ich habe während meiner Anwesenheit in Breslau bei ihm gewohnt, und so manches liebes Stündchen mit ihm und seinen Kindern musicirt und verplaudert [...]’” (Carl Julius Adolph Hoffmann, Die Tonkünstler Schlesiens. Ein Beitrag zur Kunstgeschichte Schlesiens vom Jahre 960 bis 1830, Breslau 1830, S. 45).
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach 16.03.2015).