Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287
 

Herrn Kapellmeister Spohr
Wohlgeb.
in
Cassel


Innigst verehrter Herr Kapellmeister!

Ihr lieber, lieber Brief, den ich wie eine schöne, ersehnte Gabe betrachtete, hat mich unendlich erfreut und ich wünschte nur Ihnen den so innigen Dank auch so aussprechen zu können, wie ich ihn fühle. Die köstliche Hoffnung auf das so nahe Wiedersehen belebt uns mächtig und läßt uns schon allerhand Pläne entwerfen, wie wir Ihnen nur etwas zur Freude am hiesigen Aufenthalt bereiten möchten. Wir gehen zwar, wenn nichts Unerwartetes unsern Vorsatz vereitelt, Ende May nach Berlin, um dort einige Wochen zu bleiben, richten es aber nun unwiderruflich so sein, daß wir Mitte Juny zurück und bestimmt hier sind, um Sie, Hochverehrter mit Ihrer lieben Familie, zu erwarten. Vielleicht erfahre ich bis dahin auch noch bestimmter den Tag Ihrer Ankunft, daß wir vielleicht vorher schon etwas arrangieren könnten? ach blieben Sie nun recht lange da! die Zeit wird wieder so schnell verflogen sein, daß man erst die Erinnerung recht genießen kann.1 Wie freue ich mich dann, Ihre neue Compositionen theilweise zu hören! Ihre liebe Gemahlin wird gewiß mit unserem seit 1+½ Jahre neuen Flügel zufrieden sein, denn er erfreut sich fortwährend des lebhaften Beifalls; da stehen uns doch hoffentlich einige schöne Duetten bevor. Ach, wenn Ihnen nur unsere Räume groß genug wären, da wollten wir schon machen(?) - einen größeren Musiksaal haben wir freilich nicht, aber 3 Zimmer nebeneinander und einen Vorsaal, der nicht klein zu nennen ist.2 Die Lieder mit Clarinette denke ich mir herrlich und möchte sie gar zu gern hören – Schumann, der Schüchterne, der mir zu meiner Freude kürzlich Gruß von Ihnen brachte, freut sich auch sehr auf Ihre Anwesenheit; was sagen Sie zu seinen Compositionen? Erscheinen sie nicht erst wunderlich und barock, bis man sich ganz und vollständig mit ihnen befreundet hat? Ich spiele sie jetzt mit besonderer Lust, da ich seine Eigenthümlichkeit genau kenne. – Mendelssohn ist wohl mit Frau und Kind, hat aber lange Zeit am Gehör gelitten; außer einem neuen Streichquartette und Kleinigkeiten ist jetzt nichts von ihm gemacht worden. Der alte, gute Rochlitz, der Sie herzlich grüßt, ist hin und wieder recht kränklich, aber geistig noch gesund und frisch, wie immer – wir haben diesen Winter viel Schönes zusammen gelesen und er hat sich die neusten Sachen wie die älteren von mir spielen lassen, wobei ich mich nicht wenig über ihn gefreut, daß er Sachen von Henselt und Schumann liebgewonnen hat. Wie gern wünschte ich, daß Sie, Hochverehrter, diese Lieder gehört hätten, um ein Urtheil über beide originelle Erscheinungen, ich meine damit auch die Leistungen, von Ihnen zu hören! – Kürzlich war auch Hubert Ries aus Berlin hier und ließ sich im Abonnementconcert hören; er gefiel wohl, aber doch nur mäßig, David ist gar ein mächtiger Rival jetzt, denn er schreitet immer mehr fort und leistet wirklich Vortreffliches.3 Unsere Oper ist jetzt so schlecht, daß wir uns auf Berlin freuen, einmal wieder auf dieser Reise etwas Gutes zu hören. In Dresden wird am Palmsonntage der Paulus auch gegeben – hier in Sachsen giebt es fast keine einzige kleine Mittelstadt, wo dieses Werk nicht nach möglichen Kräften gegeben wäre, wie freut es mich, daß Cassel nun durch Ihre angestrengten Bemühungen diesen Genuß hat und wie kann sich Mendelssohn darüber freuen, wenn Sie es leiten und vorführen. Vergeben Sie mir, wenn ich Ihnen so lange vorgeschwatzt habe, aber ich fühle mich so glücklich, zu Ihnen reden zu dürfen, daß ich darüber alles vergesse. Tausend herzliche Grüße an Ihre liebe Frau Gemahlin – die Meiner empfehlen sich Ihren tausendmal. Leben Sie wohl und haben Sie nochmals innigen Dank für Ihren so lieben Brief.

Mit treuster Ergebenheit
Ihre
Henriette Voigt.

Autor(en): Voigt, Henriette
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: David, Ferdinand
Henselt, Adolph
Mendelssohn Bartholdy, Felix
Ries, Hubert
Rochlitz, Friedrich
Schumann, Robert
Erwähnte Kompositionen: Spohr, Louis : Konzerte, Vl Orch, op. 79
Spohr, Louis : Konzerte, Vl Orch, op. 92
Spohr, Louis : Quartette, Vl 1 2 Va Vc, op. 74.1
Erwähnte Orte:
Erwähnte Institutionen:
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1838032444

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf ein derzeit verschollenen Brief von Spohr an Voigt. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Voigt an Spohr, 18.04.1838.

[1] Als das Ehepaar Spohr am 28.07. bei Voigt zu Gast war, spielte sie Werke von Schumann, Adolph Henselt und William Sterndale Bennett; und am 29. Spielte Spohr sein Streichquartett a-Moll op. 58.2 oder 74.1 und gemeinsam mit seiner Frau sein Concertino vermutlich op. 92, vielleicht auch op. 79 (vgl. Marianne Spohr, Tagebucheinträge).

[2] Zur Raumaufteilung von Voigts Wohnhaus vgl. Mirjam Gerber, Zwischen Salon und musikalischer Geselligkeit. Henriette Voigt, Livia Frege und Leipzigs bürgerliches Musikleben, Hildesheim 2016, S. 36.

[3] Zu Ries‘ Konzert in Leipzig am 08.02.1838 vgl. „Leipzig“, Allgemeine musikalische Zeitung 40 (1838), Sp. 111 ff., hier 111.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Friederike Wagner (16.09.2022).