Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Innigst verehrter Herr Kapellmeister!

Der Schein ist gegen mich und zeiht mich in Ihren Augen einer großen Schuld, die der Undankbarkeit - doch weiß mein Herz nichts davon. Je länger ich schwieg, je mehr und mehr ich scheinbar in meiner Verstocktheit beharrte, desto dankbarer und inniger gedachte ich Ihnen, desto lebhafter rief ich mir unendlich oft die herrlichen Tage in Cassel zurück und deshalb kann ich auch das Jahr, das mir sie brachte, nicht scheiden sehen, ohne Ihren Dank, wenn auch verspäteten, aber deshalb nicht weniger herzlichen, nur desto reicheren darzubringen und – ich sage es mit froher Ueberzeugung – so gewiß Sie meiner aufrichtigen Reue sind, so gewiß bin ich Ihrer Vergebung. Manchmal denke ich, Sie müssen es gefühlt haben, wie wir in steter, inniger Verheerung Ihrer so unendlich oft gedacht, von Ihnen gesprochen haben, welche Freunde uns ergreift, wenn wir Ihre Compositionen in uns aufnehmen, wenn wir mit fremden Künstlern ausgezeichneter Art darüber sprechen und gleiche Ansicht fanden. Dann war ich doppelt freudig und stolz, Ihr Wohlwollen zu besitzen und dankte Ihnen im Stillen tausendfach alle diese Freuden und Genüsse. Der Winter bot uns schon viel und immer Ausgezeichnetes, aber Mendelssohns Walten und Wirken bringt uns nur solches und schützt uns vor dem sonst nur zu oft vorgekommenen, dem Gewöhnlichen. Den bringen uns dann die Abonnementconcerte soviel Schönes und Auserlesenes, daß Extraconcerte immer weniger beliebt werden und es nur Künstlern von großen Ruf gelingt, sie zu füllen. Der junge Vieuxtemps aus Brüssel gehörte unter diese letzteren – er spielte mit rauschenden Beifall und hinterließ einen bleibenden Eindruck; sein Spiel würde gewiß Ihren Beifall erhalten, denn es ist nicht blos äußerst brillant und elegant, sondern auch gediegen und seelenvoll.1 In Prag hatte es voriges Jahr die Freude gehabt, Sie zu hören und war ganz voll von diesem Eindrucke, den nie ein Künstler so auf ihn hervorgebracht – wie freute ich mich da unserer gleichen Ansicht! – Morgen giebt Adolph Henselt, der jetzt am hellsten leuchtende Stern am Horizonte des Klavierspiels sein Concert – jedoch muß man ihn privatim hören, da er, stets befangen, öffentlich nicht die Hälfte seiner wahren Meisterschaft zu zeigen vermag. Und wurde es, mir mit allen Anderen, auch mit ihm so gut, ihn hier zu hören und er spielte am ersten Feiertage nach Tische 2 Stunden unausgesetzt auf meinem Flügel zu unser aller größten Erstaunen. Er ist ein wahrer Cyklop und dennoch vermag er auf den Tasten zu singen, wie eine Nachtigall, aber zu allen diesen muß er Stimmung haben und die fehlt ihm nur zu oft; aber Mensch betrachtet, ist er ein wahres Original, zusammengesetzt aus Gutmütigkeit, Leidenschaft, Launen aller Art und wie sehr all dieser Stoff auf seine Production Einfluß hat; vermögen Sie am besten zu beurtheilen.2 Ueber die herrliche Sängerin, Clara Novello, schrieb ich der guten Therese.3 Den Paulus haben wir diesen Winter nicht wieder gesungen; wohl aber Händel’s Messias. Ein neues Klavierconcert von Mendelssohn kam von ihm selbst herrlich gespielt, ans Licht und gefiel sehr.4 Noch so manches hätte ich Ihnen zu sagen, doch will ich Ihre Geduld nicht ermüden und zum Lebwohl mich anschicken. Tausend innige Grüße an Ihre liebe Frau Gemahlin, der ich auch so oft im Stillen für alle Güte gedankt habe – seit 14 Wochen quält mich ein böser Husten und raubt mir manche Freude, dennoch entschuldigt mich dieses nicht genug. Mann und Kind grüßen Sie Alle herzlich und wünschen sammt wir ein schönes, neues Jahr. Brächte dieses mir als Gabe eine Zeile von Ihnen, Verehrter, dann wäre ganz glücklich Ihre treu ergebene

Henriette Voigt 
Leipzig den 28/12 1837



Der nächste überlieferte Brief ist Voigt an Spohr, 24.03.1838, aus dem sich noch ein derzeit verschollener Brief von Spohr an Voigt erschließen lässt.

[1] Zu Vieuxtemps‘ Konzert in Leipzig am 06.11.1837 vgl. „Leipzig“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 39 (1837), Sp. 752ff., hier Sp. 752f.; zum Konzert am 13.11.1837 vgl. „Leipzig“, in: ebd., Sp. 769ff., hier Sp. 770; G.S. „Leipzig, den 17.“, in: Neue Zeitschrift für Musik 7 (1837), S. 168.

[2] Zu Henselts Konzert in Leipzig am 29.12.1837 vgl. „Daß er aber der echte deutsche Klavierspieler und groß und einzig dasteht, darüber müssen Alle übereinstimmen, die ihn privatim öfter gehört und genauer kennen, wie wir das an uns selbst erfahren und in kurzen Worten vorläufig aussprechen.“ („Leipzig, den 23. Dezember“, in: NZfM 7 (1837), S. 204; „Adolph Henselt“, in: NZfM 8 (1838), S. 7; „Leipzig“, in: AmZ 40 (1838), Sp. 30ff., hier Sp. 30.

[3] Zu Novellos Konzert in Leipzig am 02.11.1837 vgl. „Leipzig“, in: AmZ 39 (1837), Sp. 736ff., hier 736; zum Konzert am 09.11.1837 vgl. „Leipzig“, in: ebd., Sp. 753ff., hier 753; zum Konzert am 15.11.1837 vgl. „Leipzig“, in: ebd., Sp. 770ff., hier 771; zum Konzert am 30.11.1837 vgl. „Leipzig“, in: ebd., Sp. 799ff., hier 799; zum Konzert am 04.12.1837 vgl. „Leipzig“, in: ebd., Sp. 817ff., hier 817; zum Konzert am 08.12.1837 vgl. „Leipzig“, in: ebd., Sp. 818ff., hier 818; zum Konzert am 14.12.1837 vgl. „Leipzig“, in: ebd., Sp. 836ff.; zu dem Aufenthalt in Leipzig vgl. „Rückblick auf das Leipziger Musikleben im Winter 1837/1838“, in: NZfM 8 (1838), S. 111.

[4] Vermutlich meint Voigt das am 04.12.1837 gespielte Capriccio brillant op. 22 (vgl. „Leipzig“, in Allgemeine musikalische Zeitung 39 (1837), Sp. 817ff., hier 817.; vgl. „Chronik“, in: Neue Zeitschrift für Musik 7 (1837), S. 180). Die Leipziger Erstaufführung fand am 09.11.1835 durch Clara Wieck statt, vgl. „Chronik“, in: NZfM 3 (1835), S. 148; vgl. „Leipzig“, in: AmZ 37 (1835), Sp. 852ff., hier Sp. 852.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Friederike Wagner (12.09.2022).