Autograf Universitätsbibliothek Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

London den 20ten October 1837.
10. Duke Street, St. James’s.

Hochgeehrtester Herr,

Ich verschaffe mir wieder einmal das Vergnügen an Sie zu schreiben und Ihnen etwas von meinem Geschick und mitunter auch Mißgeschick mitzutheilen, nachdem ich die Ehre hatte Ihnen das letztemal zu schreiben, hatten wir uns vorgenommen eine Reiße in die Provinz Englands und nach Edinburg zu machen, allein der Himmel hatte es anders beschlossen; eine Krankheit die hier stark regierte und Influenza heißt ergriff auch mich; dann schrieb mir meine Tochter1, die als Gouvernante auf dem Lande, 200 englische Meilen2 von hier, war, daß sie sehr starke Brustschmerzen habe, und der Doktor hier rieth mir ernstlich sie von dort zurük zu nehmen, da das Klimat in jener Gegend für Brustkranke sehr gefährlich sey, als sie hier anlangte, bekam sie eine Brust und Halsentzündung woran sie gefährlich krank lag, wir waren also beide im Bette und nur mein guter Mann blieb gesund und pflegte uns mit der größten Sorgfalt und Liebe, meine Tochter genaß gänzlich, doch ich mußte mich erkältet haben und bekam ein rheumatisches Fieber und diese schmerzhafte Krankheit verließ mich erst nach vier Monaten, die Season, die einzige Zeit wo man etwas verdienen kann fing an, und ich konte noch das Zimmer nicht verlassen, auch war ich noch so schwach daß ich unmöglich hätte spielen könen; das war wohl eine traurige Zeit, doch das Glük meines inneren häußlichen Lebens ist so groß, daß ich alles, Krankheit und Entbehrung wohl mit Gelassenheit ertragen kan, wir sind alle drey entschlossen, die Schikungen des Himmels ohne Murren aufzunehmen, und uns nicht durch Klagen unser Schiksal zu verbittern; als ich mich später etwas besser befand, doch aber noch zu schwach war um die unzähligen Gänge zu machen die ein großes, öffentliches Konzert erhaischt, so arrangirte ich ein kleines Konzertchen in dem Hauße einer Dame, was ziemlich gut ausfiel, indessen hat sich meine Tochter verheirathet an einen sehr braven jungen Mann der ein geschikter Doktor ist, zwar auch ein verbanter Pohle, doch durch seine Kunst sich und seine Frau wohl ernähren kan, – Als ich noch krank im Bette lag bekam ich einen Besuch von einer Dame3 mit ihren zwey Töchtern sie ist die Frau eines Geistlichen Mannes Barker der auf dem Lande in Yorkshire wohnt, sie zeigte mir einen Brief4 von Ihnen geehrter Herr, worin Sie die Güte hatten von mir so viel, ja zu viel gutes zu sprechen, ihre Tochter5 die viel Talent für Musik hat, und nebst Singen, Guitarre, Klavier auch Violin spielt, hat bey mir etwa zehn Lekzionen genommen, da sie nur auf kurze Zeit hier waren, sie könte eine gute Geigerin werden, doch auch hier hat die fatale Sucht, ein Paganini zu werden, schon das gute Studium verdorben, sie hat Paganini selbst gehört und macht nun seine Staccato’s, seine Flageolette, seine Sprünge etc. etc. nach, doch wie? – Von den Künstlern die dießes Jahr London besuchten, war Thalberg der bedeutenste, und der Schreken aller Klavierspieler, er ist noch in England, Mori, der Musikdirektor, der ein kleiner Geiger aber ein großer Spekulant ist, hat ihn engagirt,6 und reißt jetzt mit ihm und noch einigen Sänger in den Provinzstädten umher und giebt Konzerte – dann war der Geiger Ole Bull7 hier, aus diesem talentvollen Menschen hätte etwas großes werden können, wenn er sich nach einer soliden Schule gebildet hätte, aber da er, wie er sagt, keinen Meister hatte und Paganini hörte, so arbeitete er um diesen nicht nur zu erreichen, sondern zu übertreffen, doch er hat ihn noch nicht erreicht und wird es auch nicht, da er wähnt ihn schon übertroffen zu haben, sein Ton ist schwach da er nur sehr dünne Saiten aufzieht und sehr wenig Haare an seinem Bogen hat, denn er behauptet daß der Ton stärker ist wenn wenig Haare am Bogen sind, dann ist sein Steg beinah ganz grad, weil er Trios und sogar Quatuor ganz allein auf seiner Geige spielt, welches er ziemlich gut ausführt, sein Staccato ist vorzüglich schön seine Octaven gänge aber, à la Paganini, sind nur gewagt und misslingen oft, ich hörte ihn zwey Quatuors eines von Beethoven und das zweyte von Mozart spielen, die er ganz im Paganinischen Style vortrug, zudem war das Violoncelle von einem gewissen Servais besäzt, ein Belgier mit viel Talent, der aber unausstehlich ist durch seine große Liebe die er zu seinem eigenen Ich zeigt und durch seine Arroganz dieser nun wollte vermutlich dem Bull den Lorbeerkranz streitig machen und brachte auch alle mögliche Hokus pokus an, so daß es schien als eiferten sie beide um die Wette, war es besser versteht aus dieser schönen Komposizion eine Karikatur zu machen, Ole Bull that mir leid, weil ich ihn als einen würdigen Menschen kennen lernte; dann hörte ich einen Signor Anglois8 der auch ein Tausendkünstler auf dem Kontrabaß ist, er spielt auf seinem Instrument Violinpassagen und ziemlich gut, sein Talent ist zu bewundern doch angenehm ist es nicht; – doch hörte ich zwey Künstler en Miniature die ein Konzert zusamen gaben und mich ganz entzükten, es war der eilfjährige Sohn des Konzertmeisters Möser von Berlin und das achtjährige Mädchen namens Milanolla aus Italien9, beide Violinspieler, der kleine Möser macht seinem Vater viel Ehre, den er hat ein sehr solides Spiel, doch trotz seinem schönem Talent wurde er doch durch das kleine Wundermädchen verdunkelt, sie spielte, außer einem Konzertante von Kreutzer mit dem kleinen Möser, die Variationen von Mayseder ouvre 40. mit einer Sicherheit, Reinheit und mit einem Ausdruk daß zum Erstaunen war, man kan sich nicht genug wundern wie die so kleinen Fingerchen die schweren Passagen so vollkomen heraus bringen können, ihren Bogen führt sie mit meisterhafter Sicherheit und macht auch schon ein niedliches Staccato; sie hatte ungeheuren Beifall, doch der Saal war beinah leer, was mir in der Seele wehe that, denn das liebe Kind ernährt Vater, Mutter und eine jüngere Schwester10; Sie hatten vollkommen recht als Sie mir einst schrieben, daß Talent in England nicht hinreichend ist um etwas zu verdienen, wenn man kein Glück hat. Die Ursache ist daß die Engländer wenig von Musik verstehen, und wohl schwerlich je viel verstehen werden, sie sind zu sehr in ihren Rechnungsbüchern vertieft um die alle Zeit beim Nachdenken über solch einer unnützen Sache zu verlieren; so denkt der Handelsstand, und für einen Lord schikt es sich nicht wohl daß er sich mit so gemeinen Studien abgiebt, auch liebt der reiche Engländer zu sehr das Comfortable um sich jahrelang mit einem Instrument herumzuplagen, er hat ja Geld genug um sich von anderen etwas vorspielen zu lassen. – unser gediegener Geiger Lipinski war auch hier, es wurde ihm erlaubt im Philharmonic Konzert zu spielen, wofür er ein sehr brillantes Konzert von seiner eigenen Komposizion wählte, allein ein ganzes Konzert, Allegro, Adagio und Rondo anzuhören! ja, das halten die guten Engländer nicht aus, und wenn er wie Engel spielte, beim Adagio gähnten sie schon und beim Rondo verloren sie ganz die Geduld und um nicht einzuschlafen fingen sie laut an zu reden und somit war sein ganzer hiesiger Ruhm verloren. er gab nachher ein Konzert wobey er viel eingebüßt hat, sein Spiel ist kräftig und rein in den schwersten Passagen, und besonders in Doppelgriffen ist er zu bewundern, nur Schade daß ihm Gefühl fehlt. – Nun bitte ich Sie um Verzeihung wenn ich es wage eine Bitte an Sie zu richten; ich habe einige Solos komponirt, worein ich polnische Gesänge gemischt habe, erweißen Sie mir die Ehre und vergönen Sie mir die Freude mir zu erlauben eines dieser Ihnen, meinem verehrten Lehrer und Wohlthäter zu widmen, ich fühle es wohl wie wenig es Ihnen würdig ist, doch nehmen Sie gütigst den guten Willen fürs Werk, ich möchte es gar so gerne druken laßen, allein hier in England ist es gar zu theuer, und ich bitte Sie geehrter Herr, wenn Sie mich mit einem Schreiben beehren, mich gütigst wißen zu laßen wie viel man ohngefähr in Deutschland dafür verlangen würde, – Mit der hiesigen Hofkapelle sieht es traurig aus, denn mit dem Tod des Königs lebt auch sie nicht mehr, und es scheint daß sie unter der jetzigen Regierung auch nicht wieder aufleben wird, da die Königin eine schöne Regiments Musik vorzieht, zwar ist der Franz Cramer Musikdirektor geblieben, hat aber nichts zu direkiren, das ganze Orchester ist abgedankt worden, und somit auch der gute junge Blagrove, der jetzt in Dover ist, wohin ihn der Herzog von Cambridge berufen hat um mit ihm Quartuors zu spielen; Blagrove wird nächstens eine Reiße nach Deutschland machen11, sein Talent ist so wie er selbst hier sehr beliebt, das einzige was man kritisirt ist sein Ton der etwas schwach ist, allein ich glaube dieser Fehler komt von seiner Geige die nicht besonders gut ist, und zweitens ist er selbst schwächlicher Beschaffenheit, aber sein Spiel ist äußerst brillant; ja ich muß Ihnen doch noch sagen, daß auch vier Brüder Müller hier waren die sich mit vielem Beyfall mit Quatuors hören ließen, hatten aber kein Glük, wie auch zwey Brüder Ganz, wovon einer Violin und der andere Violoncelle spielte, und besonders der letztere viel Talent hatte, auch diese reißten bald von hier weg. hier machen nur Sänger und Sangerinnen ihr Glük denn in allen musikalischen Abendgesellschaften, deren in der Saison stets eine Menge gegeben wird, ist es Mode nur Gesang zu haben, was man dann schwer bezahlt, der Preiß der Malibran war für einen Abend 40 guineen, und sie machte immer noch die Bedingung daß man auch den Beriot engagiren müßte, der kostete aber nur 10 guineen, es ist wahr daß Paganini und Thalberg viel verdiente, doch es ist bekant wie neugierig die Engländer sind, beim ersten hätten sie schon eine guinea gegeben um diesen schrecklichen Menschen zu sehen der, wie sie sagten, seine Frau todschlug, aus ihren Knochen seine Violin machte und mit ihren Haaren seinen Bogen bezog, dann 20 Jahren mit dieser Geige im Gefängniße saß, und durch einen Bund mit dem Bösen sich frey machte; der zweite aber ist, außer seinem Talent, ein junger, schöner Mann, der sich für den natürlichen Sohn des Großherzogs Karl ausgiebt12, sehr reich ist und nur aus Gnade eine Lekzion für zwey Guineen giebt und deswegen jede reiche Engländerin sich glücklich genißt wenn er ihr diese Gnade erweißt. –
Verzeihen Sie geehrtester Herr wenn ich Sie langweile mit so einem langen Brief, allein ich weiß Sie sind zu gütig um mir doch so große Vergnügen zu versagen mich mit Ihnen wenigstens schriftlich zu unterhalten. Ich bitte mich Ihrer Frau Gemahlin höflichst zu empfehlen wie auch Ihren werthen Töchtern.
Genehmen gütigst die Versicherung meiner höchsten Achtung mit der ich die Ehre habe zu verbleiben

Ihre ganz ergebene und ewig dankbare
Elise Filipowicz

Mein Mann und meine Tochter empfehlen sich Ihnen schönstens.



Der letzte belegte Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Filipowicz, 27.10.1836. Der nächste erhaltene Brief ist Filipowicz an Spohr, 18.04.1838.

[1] Kurze Zeit später verheiratete Ratajaska.

[2]  1 englische Meile entspricht 1,609344 Kilometer.

[3] Jane Barker.

[4] Dieser Brief ist derzeit verschollen.

[5] Laura Barker.

[6] Thalberg trat in dieser Saison erstmals 08.05.1837 in einem von Nicolas Mori veranstalteten Konzert im Opera House London auf („Mr. Mori’s Concert in the Theatre“, in: Literary Gazette (1837), S. 277; spätere Auftritte in Großbritannien, auch außerhalb Londons, im von Mori organisierten Ensemble vgl. „Mr. Mori and his Party in the Provinces“, in: Musical World 2 (1837), S. 202).

[7] 1837 gab Bull 274 Konzerte in Großbritannien (Camilla Cai, Einar Haugen, Ole Bull. Norway’s Romantic Musician and Cosmopolitan Patriot, Madison/Wisconsin 1993, S. xxvii).

[8]  Vermutlich Luigi Anglois (1801–1872), und nicht dessen Vater Giorgio Anglois.

[9]  Das Konzert Teresa Milanollos und August Moesers fand am 30.06.1837 im King’s Theatre statt („Operas, Concerts &c. for the ensuing week“, in: Musical World 6 (1837), S. 32).

[10] Maria Milanollo, jüngere Schwester Teresas und später Teil der berühmten Milanollo-Schwestern, konzertierte erst ab 1840 an der Seite Teresa Milanollos (vgl. Volker Timmermann, „Milanollo, Teresa. Milanollo, Maria“, in: Lexikon Europäische Instrumentalistinnen des 18. und 19. Jahrhunderts, hrsg. von Freia Hoffmann,.Bremen 2013).

[11]  Blagrove konzertierte bereits Ende Dezember 1837 in Wien („Concert der Dlle. Wieck“, in: Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode (1837), S. 1215f., hier S. 1216) . Am 18.01.1838 gastierte er im Leipziger Gewandhaus („Leipzig“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 40 (1838), Sp. 67f.).

[12] Thalbergs familiäre Herkunft ist bis heute unsicher. Laut Geburtsurkunde war er der Sohn von Joseph Thalberg und Fortunée Stein, diese Namen lassen sich nicht verifizieren, vermutlich sind sie fiktiv. Möglicherweise war er der illegitime Sohn von Moritz Graf Dietrichstein oder dessen Bruder Franz Joseph von Dietrichstein, der u. a. den Titel eines Freiherrn von Thalberg führte, sowie einer Maria Julia Wetzlar von Plankenstein.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Volker Timmermann (08.07.2020).