Autograf: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohnarchiv (D-B), Sign. Mus.ep. Spohr-Correspondenz 2,108
Druck: [Ernst Rychnovsky], Beschreibendes Verzeichnis der Autographen-Sammlung Fritz Donebauer in Prag, 2. Aufl., Prag 1900, S. 172 (teilweise)

Berlin am 9. Septbr. 37.

Wohlgeborner,
Hochgeehrtester Herr!

Sie haben mir mit der gütigen Erfüllung meines doppelten Wunsches neue große Freude bereitet und mich Ihnen abermals zu herzlichstem Dank verpflichtet.
Eine eben so große und eben so dankenswerthe Freude gewährt mir Ihre Bemerkung über meine biographische Skizze von Mozart.1 Ich darf sogar zufügen, daß der Zorn der prager Kunstfreunde mich erfreut; denn so sehr liebe und ehre ich Mozart, - und habe ich stets so geliebt, - daß sogar eine Ungerechtigkeit gegen mich, aus Liebe für ihn entspringen, ihren Stachel verliert. Ich möchte Sie bitten, noch einmal meinen Aufsatz unbefangen zu lesen, - selbst einstweilen Ihr eignes Kunsturtheil bei Seite zu setzen: so muß Ihne (oder ich habe eine schlechte Feder geführt) aus jeder Zeile diese meine Gesinnung gegen Mozart hervorleuchten.
Aber noch mehr wie Mozart liebe ich die Kunst. Ich habe eine so hohe Idee von ihr gefaßt, daß ich fest überzeugt bin: Kein einzelner Künstler – wie er auch hieße, - erschöpft sie, sondern jeder thut das seine herzu, ihren Wunderbau zu vollenden. Soll also von einem Künstler geredet werden, so scheint es mir darauf anzukommen, zu sagen: was eben er gethan, welche Idee eben er ausgeführt hat. Das scheint mir die größte, ja die einzige Würdigung eines Künstlers. Weiß ich nun (oder glaube ich zu wissen) welches die Idee, die eigentliche Tendenz eines Künstler gewesen: dann frage ich, wie er sie vollführt, verwirklicht hat; erst von hier aus scheint nun über seine Erfindung und Ausführung im Einzelnen ein Kunst-Urtheil möglich.
Wenn ich nun Ihnen, verehrtester Herr, die Versicherung geben kann, daß ich jedes Ihrer Worte über Mozarts Vollendung unterschreibe: so hoffe ich Sie mit meinen Aeußerungen über ihn (elbst wenn sie irrig sein sollten) in so fern gewiß zu versöhnen, als ich darthue, daß sie aus der reinsten Gesinnung und einem wichtigen Prinzip – das ich eben ausgeprochen habe – hervorgetreten sind.
Fangen wir bei den Symphonien an. Ja! Mozart ist in dem, was er mit oder in der Symphonie gewollt hat, unübertroffen, einzig. Aber wie dürfte ich Beethovens Symphonien – oder Ihre neueste – nach mozartschen Maaßstabe beurtheilen. Beethoven und Sie selbst haben ja urkundlich etwas ganz Andres gewollt (von Beeth. nehme ich die C, D und B – auch F aus) und, nachdem Haydn Mozart und Andre die Bahn gebrochen und geebnet, haben Sie ja die Möglichkeit gefunden, weiter zu gehen, zu umfassendern, bestimmtern, größern Ideen. - Ich sage darum nicht, daß Sie oder Beethoven größere Künstler sind (nach der Elle messe ich Geister niemals) oder er kleiner; er ist vollendet, - aber Ihnen war ein Neues, Besonders, Weiteres gegeben, das Sie der fortgeschrittenen2 Entwicklung des menschlichen Geistes und der Kunst überhaupt, und unter andern auch dem Vortritt Mozarts verdanken.
Erlauben Sie mir noch ein Beispiel an einem Ihrer Werke, der Ouverture zu Faust, - meinem Liebling. Sie ist fugirt, - die Zauberflöten-ouv. auch. Wie, wenn man Ihr Werk an diesem messen, z.B. sagen wollte: es sei nicht so klar oder leicht oder anmuthig geschrieben? - Mir schiene ein solches Urtheil Unsinn; denn Sie haben ja was ganz anders gewollt und gewußt. Was tausend! Bei Ihnen öffnet sich der Spuk der Unterwelt und das regno di piante3 und bei Mozart wird ein reizend Spiel von Erhabenheit und Kindlichkeit eingeleitet.
Ich berufe mich auf Mozart selbst; wo er von seinen Arbeiten Rechenschaft giebt4, hat er es nie in anderm Sinne gethan. Lesen Sie nur, was er über Belmonte und Osmin schreibt.
Nun aber sagt er auch selbst, wie unbekümmert er den Text aufgenommen, wie er diese Sängerin und jenen Sänger bedacht, wie er – in Klaviersachen den Liebhabern zu Gefallen geschrieben oder sich beschränkt hat. Er sagt es nicht blos in den Noten, auch mit geraden Worten. Soll man also nicht auch aussprechen, daß Beethoven und Gluck es anderes gehalten? -
Sie haben, verehrtester Herr, meinen Artikel mit dem über Morlacchi verglichen.5 Aber ist das wol billig? Habe ich über Morlacchi geschrieben? Wer ist eifriger und beständiger gegen die welchsche und französische Verderbtheit aufgetreten, als eben ich? Wollen Sie meinen Artikel vergleichen, so kann es nur mit denen über Bach, Beethoven, Gluck, Palestrina, Fasch, Dussec, Piccini u.A. geschehen, die ich geschrieben habe. Für die Nachbarn in einem Lexikon kann Niemand stehen. Selbst den Redakteur kann man nach meiner Meinung nicht für den Inhalt jedes Artikels verantwortlich machen. Niemals weiß und kann Alles; ein Werk vieler Hände kann und wird niemals durchgängig in einem Geiste und von einer Vortrefflichkeit sein; Mitarbeiter lassen sich nicht kommendiren, wie Soldaten.
Kennte ich Ihre prager Freunde (die mir, obwohl unbekannt, doch schon ihres Eifers wegen schätzenswerth sind) so schickte ich ihnen Abschrift dieses Briefes, um sie mir zu versöhnen. So aber will ich mich freuen, wenn ich nur Sie – unstreitig die Hauptperson in dieser Sache – mir geneigt erhalte.
Mit größter Hochschätzung habe ich die Ehre zu sein

Ihr ergebenster
Marx.



Dieser Brief ist die Antwort auf einen derzeit verschollenen Brief von Spohr an Marx. Spohr beantwortete diesen Brief am 27.09.1837.

[1] A[dolph] B[ernhard] M[arx], „Mozart, Wolfgang Amadeus“, in: Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften, oder Universal-Lexicon der Tonkunst, hrsg. v. Gustav Schilling, Bd. 5, Stuttgart 1837, S. 24-32.

[2] Hier zwei Wörter gestrichen („Reife uns“?).

[3] Königreich der Pflanzen.

[4] Noch nicht ermittelt.

[5] Vgl. st., „Morlacchi, Francesco“, in: ebd., S. 4ff.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (15.12.2017).