Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287[Kleinwächter,L.:13

Prag den 11ten August 1837.

Innigst geliebter Herr!

Durch den heute von hier abgesendeten Postwagen [So eben höre ich, dasz die Sachen erst am 15t von hier abgehen.]1 erhalten Sie die Abschrift der Ouverture, so wie die Blätter aus dem Album der Comtesse Thun.2 Glauben Sie nicht etwa, dasz sich hinter den vier groszen Quartblättern ein indiscretes Verlangen nach einer langen Composition verbergen soll; ich dachte nur, es sei beszer einige Reserve-Blätter für mögliche Unfälle beizulegen. Für Ihre verehrte Gemahlin liegt der Prager Theaterzettel von der Aufführung der Jessonda und des Berggeistes während Ihrer Anwesenheit bei, ich habe mir dieselben nachträglich durch Stoeger – der sich Ihnen insbesondere ergebenst empfiehlt – ausfolgen laszen. Endlich war ich noch so frei das Rondo für die Violine mit Pianoforte Begleitung, welches ich schon vor längerer Zeit für einen meiner Freunde schrieb, beizulegen. Wenn Sie es nicht unwerth finden, die Kleinigkeit durchzusehen oder gar ein oder das andere Mal durchzuspielen, so werde ich innig erfreut sein.
In dieser nachfolgenden Notensendung liegt zugleich der Grund, dasz ich Ihr Liebes von Linz erst so spät beantworte. Die Abschriften wurden nicht sobald fertig und somit muszte der Brief, der zugleich Annonce der Sachen sein sollte auch warten. Sie werden nun wieder in Ihrer gewohnten Ordnung leben, und sich an den schönen Bildern ergözen, die Ihnen die interessante Reise vorgezeichnet hat. Wir können den Schmerz, den die abgedrungene Versagung der Reise verursachte, noch immer nicht vergeszen! Unterdeszen hat er Erfolg bewährt wie vorsichtig es war, zu Hause zu bleiben. Das Unwohlsein des Vaters3 hat sich bis itzt herausgezogen, und die Grippe-artige Aufregung wollte die längste Zeit nicht weichen. Gegenwärtig ist er aber schon beinahe ganz wohl, und ich hoffe, binnen kurzem mit meiner Frau4 eine kleine Excursion über Land zu dem Freunde5 den Sie bei Ihrer Hinreise das letztemal als Tischnachbar kennen lernten machen zu können. Sie freue mich sehr darauf, der Stadtluft auf einige Zeit zu entweichen, und umsomehr als mich in lieber freundlicher Umgebung und Gesellschaft sehr angenehm Tage erwarten. Uiber die Annehmlichkeiten, die Ihnen auf der Fortsetzung Ihrer Reise geboten wurden, hoffe ich – wenn es Ihre itzt wohl wieder gehäuften Geschäfte erlauben werden – einige Details zu erhalten; ich bin schon sehr begierrig zu hören was Sie alles Schönes gefunden und erlebt haben seit Sie mir das letzte Mal schrieben. Kurz nach Ihnen gieng Poeck auf Urlaub, von dem er noch nicht zurück ist; der Berggeist muszte darum liegen bleiben, soll aber alsbald wieder vorkommen, wenn Poeck wieder hier sein wird, was wohl nicht mehr lange anstehen kann. Dann soll noch die neue Scenirung der Jessonda vor sich gehen, wie mir Stöger ganz gewisz zugesagt hat. Unterdeszen ist sie noch einmal in der alten verzwickten Gestalt seit Ihrer Abreise gegeben werden. Strakaty sang anstatt des Poeck den Tristan und unser 3ter Bassist ein neu-acquirirter Herr Schumann – nichts besonderes; aber auch nichts Schlechtes – den Dandau. In ähnlicher Besetzung hörten wir noch vor einigen Tagen wieder Ihren Faust; der besonders fleißig gegeben wurde. Ihre gmoll Sonate für Pianoforte und Geige6 erhielten wir wenige Tage nach Ihrer Abreise; ich habe sie bereits wiederholt tüchtig durchgemacht und mich an dem kräftigen, schön und tief empfundenen Werke innig ergözt und gelabt. Ich freue mich nun auch sehr, bald die zweite, die Reise-Sonate7 zu hören.
Wenige Tage nach Ihrem Fortsein habe ich die Instrumentirung eines Streichquartettes begonnen, bin aber – durch andere Arbeiten aufgehalten – noch nicht weiter gekommen, als bis an die Repetition des ersten Satzes. So ein Werk ist denn doch ein derbes Stück Arbeit, und ich kann sagen, dasz ich sehr froh sein werde, wenn ich durch eigenes Aushören wiszen werde,
ob ich den Effect so heraus gebracht habe, wie ich wünsche, bis itzt bin ich noch immer etwas ängstlich. Wird Ihre liebevolle Güte und Gefälligkeit auf mich nicht vergeßen? und mir das wirksame Mitteltwerk bei Breitkopf und Härtel, oder sonst, wo Sie es passend finden, angedeihen laszen? Ich werde Ihnen gewisz unendlich dankbar bleiben, und zu meinen Arbeiten gewiß unabläszig bemüht sein, Ihrer Empfehlung nach Kräften würdig zu werden.
Bevor ich schließe, musz ich Sie doch auf etwas Merkwürdiges in der musikalischen Welt aufmerksam machen, was Ihnen vielleicht entgangen ist. Wenn Sie den Artikel „Mozart“ - in dem Stuttgarter Universal-Lexicon der Tonkunst noch nicht gesehen haben, so bitte ich, einen Augenblicke wo Sie gerade nichts beszeres zu thun haben, denselben zur Hand zu nehmen. Sie werden vielleicht selbst – vergeben Sie mir die Unbescheidenheit – von dem weisen Referenten einigen profitiren können. Wir lernen dort, dasz der gute Mozart, vom Händel und Bach im Kirchen-Satz, vom Haydn im Quartett, vom Beethoven im Pianoforte Satz und vom Gluck im Opernsatz bei Weiten übertroffen wird, wir erfahren ferner, wie sich die Menge noch immer herausnimmt den Beethoven nach Mozartschen Maszen zu meßen, und vernehmen endlich dasz das Vorurtheil für den Namen Mozarts und die träumerische Hingebung in den Reiz seiner Weisen – die – wie es dort an einem andern Orte heißt – das religiös und politisch eingewiegte Teutschland anklagen, und nur für leichtere Stimmungen in der Sympathie gegeben sind – bereits versschwunden ist.8 Wie bei Gott! das ist doch wirklich für eine menschliche Seele zu viel! Ich möchte wiszen, wer der mit A.B.M. bezeichnete Skribler ist; aus den Anfangsbuchstaben verbunden mit dem Inhalt seines Gesudels möchte ich einen Albernen Bornirten Menschen hinter ihm vermuthen. Hoffentlich wird diese possenbübische(???) Unverschämtheit gebührend aufgedeckt werden!9 Und so eine Dummheit steht in einer Encyclopädie der musikalischen Wissenschaften? herausgegeben von einer Anzahl von Magistern, Doctoren, Profesoren und sonstigen Gelehrten, die in der Welt etwas gelten wollen. Man muß roth werden vor dem gebildeten Ausland! Dieser Aufsatz ist leider wieder eine neue Ausgeburt des romantisch-Beethovenschen Schwindels, dem freilich Mozart mit seinen schönen Formen nicht10 recht sein kann, wenn er nicht selbst sein Todes-Urtheil über sich sprechen will. Den Herrn dieser Art wollte ich gar zu gerne einmal eine Nachtmusik bringen; wozu ich mir den Schlußsatz aus der einen Arie des Osmin wählen würde; diese Mozartsche Musik sammt Text paszt für solche Genies.11 Quos ego! sed motos praestat componere fluctus12 – darum genug!
Von uns Allen – den Herren Kittl, Grafen Thun, und Ihren Schwimmdoctor13 mit inbegriffen folgen die herzlichsten Grüsze und Empfehlungen

Louis Kleinwächter.



Dieser Brief ist die Antwort auf den derzeit verschollenen Brief Spohr an Kleinwächter, 12. oder 13.07.1837. Spohrs Antwortbrief vom 01.10.1837 ist derzeit ebenfalls verschollen.

[1] Ausdruck in Klammern am unteren Seitenrand eingefügt.

[2] Vgl. Leo von Thun an Spohr, 26.11.1837.

[3] Ignaz Kleinwächter.

[4] Friederike Kleinwächter.

[5] Möglicherweise Johann Weitlow (vgl. Kleinwächter an Spohr, 24.08.1836 und 18.09.1838).

[6] Op. 95.

[7] Op. 96.

[8] Vgl. A[dolph] B[ernhard] M[arx], „Mozart, Wolfgang Amadeus“, in: Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften, oder Universal-Lexicon der Tonkunst, hrsg. v. Gustav Schilling, Bd. 5, Stuttgart 1837, S. 24-32, hier S. v.a. 31f.

[9] Spohr nahm Kleinwächters Kritik in einem derzeit verschollenen Brief an Adolph Bernhard Marx auf.

[10] „nicht“ über gestrichenem „gar nicht“ eingefügt.

[11] „O wie will ich triumphiren! / Wenn sie euch zum Richtplatz führen / Und die Hälse schnüren zu“ (Die Entführung aus dem Serail. Eine komische Oper in drey Aufzügen von Bretznern mit Musik von Wolfgang Amade Mozart, o.O. 1791, S. 20).

[12] „Quos ego! sed motos praestat componere fluctus“ = lat. „Euch werde ich – aber es ist besser, die aufgewühlten Wogen zu besänftigen“ (Vergil, Aeneis, V. 134, vgl. Bucolica, Georgica et Aeneis, Paris 1791, S. 130).

[13] Karl Hutzelmann (vgl. Louis Spohr, Lebenserinnerungen, hrsg. v. Folker Göthel, Tutzing 1968, Bd. 2, S. 177, Text mit fehlerhafter Paginierung auch online; ders., Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 2, Kassel und Göttingen 1861, S. 141).

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (08.04.2019).