Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287[Kleinwächter,L.:12

Prag den 6ten Juni 1837.
 
Innigst verehrter Herr!
 
Eigentlich wollte ich mein Schreiben nicht eher absenden, als bis ich darin zugleich einen Bericht über die Aufführung und Aufnahme Ihres „Berggeist“ hätte geben können; allein ich sehe schon, dasz ich am Ende die Mittheilung persönlich übergeben müszte, darum will ich denn auch nicht länger anstehen, Ihnen von Ihren Prager Verehrern nach so langer Zwischenzeit wieder ein Lebenszeichen zukommen zu laszen. Die Production des Berggeist ist durch Hindernisze mancherlei Art – insbesondere durch frühere Kränklichkeiten der Sänger, itzt aber durch die fortwährenden Gastspiele der eigentlich schon in Wien engagirten Lutzer – mit welcher Stoeger nicht erst eine neue Opern studiren will – so wie endlich durch Verspätung der Decoration und Costumerie – immer noch verzögert worden, und ich glaube nicht, dasz die Oper vor Ihrer Ankunft mehr zur Aufführung kommen wird. So wie ich höre, haben die Sänger ihre Parthien schon zeimlich inne, auch sollen für den Alchymisten schon einige Vorbereitungen getroffen werden. Hoffentlich hat sich Stoeger über die Details mit Ihnen selbst in Correspondenz gesetzt, um Ihren umvorgreiflichen1 Willen in dieser Beziehung zu vernehmen. Wie sehr ich mich freue, Sie so bald hier zu sehen und eine Ihrer Opern von Ihnen geleitet zu hören, werden Sie selbst gewisz überzeugt sein, ich bin sehr begierig, nächstens von Ihnen genauer Nachrichten über Ihre Ankunft zu vernehmen. Wie steht es mit den projectirten Reiseplänen? Auch hierüber drängt es mich schon sehr, Ihre Vorsätze zu hören, hoffentlich werden mir meine – seit meinem letzten Schreiben – neu eingetretenen Geschäfte, kein Hindernisz in den Weg legen, diesz schöne Vergnügen zu genießen.
Wie Ihnen nicht unerwartet sein wird, bin ich seit acht Tagen vermählt, und befinde mich selig im so heiszersehnten Besitze des geliebten Wesens das mich so ganz versteht und beglückt. Meine gute Frau2 freut sich unendlich auf das Vergnügen, Sie, mein innigst verehrter Herr! persönlich kennen zu lernen, und Ihnen den Aufenthalt in Prag vereint mit uns allen so angenehm zu machen, als es nur immer in unsern Kräften steht. Wie innig freue ich mich der Augenblicke, die dem geliebten Meister unserm nunmehr so schön vermehrten Familienkreise schenken wird! Schreiben Sie mir nur bald, wann Sie kommen, und wie lange Sie bleiben wollen; ich werde dann gewisz alles besorgen, was Sie in Betreff Ihrer Oper besorgt wünschen.
Ich zweifle keinen Augenblick, dasz Sie am Prager Publicum Vergnügen finden werden, und freue mich der gewisz enthusiastischen Aufnahme, die Sie und Ihre Oper hier erwartet. Ihre Jessonda ist gestern – nach einer längern Pause – wieder gegeben worden.3 Das Haus war sehr voll, der Beifall reich, die Ouverture und das Blumenduett wurden wiederholt verlangt, obschon die Production – wenigstens für mich – lange nicht genügend ausfiel. Vielleicht werden die Theaterdirectionen – wenigstens der gebildeteren Städte – endlich einsehen lernen, dasz der nachhaltige Beifall den sich classiche Musik endlich doch erringen musz, auch für die Geldaussichten der Unternehmer convenabel4 ist5; eine Uiberzeugung, bei der unser armseliger Kunstzustand am meisten gewinnen musz. Wenn nur dem leidigen Verstümmeln der Opern-Tonstücke wegen ganz untergeordneten Rücksichten endlich einmal eine kräftige Wehre entgegensetzt würde! In dieser Beziehung hat Ihre letzte Mahnung in dem Briefe6 an Kinderfreund doch so viel gewirkt, dasz – wie mir versichert wird – Ihr Berggeist ganz genuin mit allen Noten, die Sie hineingesetzt haben, studiert wird. Wollte Gott, dasz diesz heilsame Verfahren allgemein würde!
Von Ihren neuern Werken sind bis itzt nur die Lieder und die Concertante in unsern Händen, die beiden Sonaten sind wohl noch nicht verlegt, oder wenigstens noch nicht versendet, die letzte wird mir sohin ganz neu sein, und ich bin unendlich begierig, sie von Ihnen und Ihrer hochverehrten Gemahlin bei Ihrer Anwesenheit in Prag zu hören. Nicht wahr? Sie sind so gut und bringen Ihre neuen Manuscripte wieder mit, und laszen uns hier etwas davon hören, oder wenigstens nur in Partitur lesen? Die Cantate7, von der Sie mir das letzte Mal schrieben8, spannt meine Erwartung ganz besonders, Ihre musica sacra ist mir immer so ganz nach Herz geschrieben. Ich freue mich sehr, bald zu erfahren, ob und was Sie Neues in der Zwischenzeit gemacht oder begonnen haben. Hat das Musikfest – was wie die Zeitungen melden, verhindert werden sollte, doch Statt gefunden, so wird Ihnen wohl wenige Zeit für eigene Arbeiten geblieben sein.9 Die Erholung und Kräftigung durch die Reise wird dann um so wohlthätiger wirken, hoffentlich wird die hierstaatliche anti-constitutionale Luft den freien Gedankenflug Ihrer Phantasie nicht hemmen.
Bevor ich schliesze, musz ich Ihnen doch noch mittheilen, dz10 meine Ouverture hier bereits zweimal öffentlich gegeben wurde.11 Ich war mit der Aufnahme dieses Versuches sehr zufrieden, und hatte auch die Freude, in der Leipziger allgemeinen musikalischen Zeitung ein sehr ehrendes Urtheil darüber zu finden, worin mir zwar ein allzu groszes Hinneigen zum Spohr‘schen Genre vorgehalten wird, übrigens aber nichts Wesentliches muszbilligt ist.12 Wenn meine Sachen nie andre Fehler hätten, als den eben erwähnten; so mögen sie mit diesem Fehler gedeihen und in alle Welt gehen, die es wiszen kann und soll in welcher Schule ich lebe und in welchem Gebiete ich mich heimlich fürchte. Ein absichtliches sclavisches Nachbeten ist mir nie eigen gewesen, allein bekennen musz ich offen,13 wenn die gewisze harmonisch üppige, weiche, chromatische Schreibart – als deren Schöpfer wir alle Sie verehren – nicht Gemeingut aller jener werden dürfte, die den Drang in sich fühlen, in derselben zu schreiben, so lege ich meine Feder nieder, oder schreibe wenigstens mein ganzes Leben hindurch nur Incipien. Als Dilettant componire ich ohnehin nur zu meiner Freude, und wähle mir frei jene Weise, in der sich meine Subjectivität am liebsten ausspricht. Aendert sich in dieser Beziehung mein Sinn – was übrigens Gott verhüte – so werden sich auch die Werke ändern, früher aber werde und kann ich mich nicht anders geben als ich fühle; und ich danke dem Himmel dafür, dasz ich an Ihren Schöpfungen und Weisen erst eigentlich tonisch fühlen gelernt habe.
Mein lieber und treuer Freund Kittl hat sich heuer in einer Sinfonie versucht, die sehr wacker und talentreicht geschrieben ist, und mit vielem Beifalle in einem Concerte gegeben wurde.14 Ich werde trachten, Ihnen, mein geliebter Meister, die Erstlings-Regungen unserer jüngern Kräfte bei Ihrer Anwesenheit im Prüfungsaale des Conservatoriums vorzuführen, und kann den Augenblick – kaum erwarten in welchem mir Ihr so lehrreiches Urtheil hierüber kund werden wird.
Noch manches würde ich Ihnen gerne über das hiesige Kunstreiben zu berichten haben, allein das sechste Blatt dieses Briefes nähert sich seinem Ende und ich musz wirklich fürchten, Sie zu ermüden. Darum alles Weitere bis zum mündlichen Gespräch und itzt nur noch das, dz ich mich unendlich freue, Sie bald wieder unter uns zu wissen. Möge Ihre Herreise so angenehm und glücklich sein als es von ganzer Seele wünscht
 
Ihr bis zum Tode ergebener
Louis Kleinwächter
 
Ihnen und Ihren lieben Angehörigen das Beste von uns allen.



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Kleinwächter an Spohr, 02.01.1837. Der nächste erschlossene Brief dieser Korrespondenz ist Kleinwächter an Spohr, bis zum 10.07.1837.
 
[1] „Unvorgreiflich und Unvorschreiblich, zwey nur in den Kanzeleyen, besonders Ober-Deutschlandes, übliche Bey- und Nebenwörter, welche daselbst als Ausdrücke der Höflichkeit gebraucht werden, und bedeuten sollen: ohne dadurch einem andern vorzugreifen, oder ihm etwas dadurch vorzuschreiben [...]“ (Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, Bd. 4, 2. Aufl., Leipzig 1801, Sp. 946f.).
 
[2] Friederike Kleinwächter.
 
[3] „Theaterbericht vom 2. bis 4. Juni“, in: Bohemia 23.06.1837, nicht paginiert.
 
[4]convenabel, passend, anständig, zuträglich, rathsam“ (Friedrich Erdmann Petri, Gedrängtes Deutschungs-Wörterbuch der unsre Schrift- und Umgangs-Sprache, selten oder öfter entstellenden fremden Ausdrücke, zu deren Verstehn und Vermeiden, 3. Aufl., Dresden 1817, S. 115).
 
[5] „ist“ über gestrichenem „sind“ eingefügt.
 
[6] Dieser Brief ist derzeit verschollen.
 
[7] Gott du bist groß op. 98.
 
[8] Spohr an Kleinwächter, 18.10.1836.
 
[9] Spohr plante für Pfingsten 1837 ein Musikfest in Kassel, das die Regierung zu diesem Zeitpunkt jedoch aus religiösen Gründen nicht genehmigte (vgl. Louis Spohr, Lebenserinnerungen, hrsg. v. Folker Göthel, Tutzing 1968, Bd. 2, S. 175, Text mit fehlerhafter Pagnierung auch online; ders., Louis Spohr’s Selbst-Biographie, Bd. 2, Kassel und Göttingen 1861, S. 216).
 
[10] „dz“ = Abk. f. „dasz“.
 
[11] Vgl. A[nton] M[üller], „Ueber die dritte Akademie des Conservatoriums der Musik“, in: Bohemia 14.03.1837, nicht paginiert.
 
[12] Vgl. „Prag“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 39 (1837), 246ff., 255ff. und 276f., hier Sp. 256.
 
[13] Hier ein Wort gestrichen.
 
[14] A[nton] Müller, „Die Akademie zum Besten der Unterstützungsanstalt dürftiger Hörer der Philosophie“, in: Bohemia 30.04.1837, nicht paginiert.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (04.04.2019).