Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Wohlgeborner Herr!
Insonders Hochgeehrter Herr Doctor!

Dass Ew. Wohlgeboren sich eines Mannes nicht mehr erinnern, ist bei mir ausser allem Zweifel; doch nie wird mir die Liebe u Hochachtung erlöschen, die Sie im Jahre 1830, mir durch gütige Zusendung Ihrer herrl. Composit. (als ich z. Z. von Hamburg nach Amerika abreisen wollte) bewiesen. Die Reise wurde durch eine Krankheit verhindert, u. dafür wies mich das Geschick hierhin nach Warschau. Kaum einige Monate hier angekommen, erschien die Revolution. Während dieser war ich ein wahrer Spielball des Geschickes, und dabei öfteren Todes-Gefahren auch noch ausgesetzt. Doch Alles geht ja vorüber. Mein Leben im Leben ist aber durch die so vielfältigen widrigen Eräugnisse ein ganz Eingenthümliches geworden. Ganz abgeschlossen von der äusseren tobenden Welt, sitze ich ausser meinen Lectionen in meiner Zelle, u. lebe nur allein mir selbst, u. der Kunst. Natürlich richtet sich meine Einnahme nach meinem einsamen Leben. Doch der Mensch bedarf wenig. Das Viel u. Wenig liegt nur in seinem Willen. Meine angenehmsten Erholungen sind mir die Studien Ihrer herrlichen Compositionen. Da ich nun durchaus keins Ihrer Quintett oder Quartett so hören kann, wie ich wünsche; nehmlich: fehlerfrei u. geschmackvoll, – so erbiete ich seit 4 Jahren an den arragerm. derselben, u. zwar für Violine u Piano. Das arragem. à qu. m.1 ist in so fern für mich geschmacklos, als der schöne Gesang Ihrer reitzenden Melodien dabei ja ganz verloren geht. Schon habe ich eine zieml. Menge bearbeitet, doch fehlt mir noch ein grosser Theil. So kann ich z. B. gar nicht das Quint. c. mineur op. 52, wo das himmlische adagio as dur darinn, – ferner auch gar nicht das herrliche 3. Doppel Quartett erhalten. Die ersten Beiden nebst der 3 ersten Quintett habe ich schon bearbeitet. Dann u. wann besuchen mich einige recht tüchtige Violin Spieler, u. wie bezaubert stehen sie nach dem Genuss da. Was liegt aber auch in allen Ihren composit. für ein unendlicher Reichthum von Würde – fast möchte ich sagen: Heiligen – Lieblichen & Seelenvollem! Habe ich ein adagio von Ihnen gespielt, so z.B. aus dem 11. Concert E mineur, so fühle ich in meinem Innern eine Seligkeit, die ich nicht aussprechen kann. Eben so ruhig wie im Leben, verwahre ich diese meine Precciosen (die mir dann doch auch manche Mühe schon gemacht) in meinem Secretair; sie sind mein grösster Schatz! – Hier ist bei den Buchhändlern nur von einer taktfehlenden u. jammerv. Masur oder Walzer die Rede. In Deutschland habe ich keine Bekanntschaft. Ich würde Ew. Wohlgeb. eine kleine Arbeit von mir zugesendet haben, doch befürchte ich nur, Sie damit zu langweilen. Ich lebe ohne Freund – darum, weil ich keinen finde, der ein reines Herz mit einem gebiledeten Geist verbinde. Meine Arbeiten u. die Natur sind meine Tröster, mit denen ich reden kann, wie ich will, und die mich verstehen.
Freund Hesse schrieb mir voriges Jahr, dass er so selige Stunden mit Ihnen in Dresden & der sächs. Schweitz verlebt. Könnte ich in diesem Leben Ihnen doch auch noch einmal persönl. meinen herzlichen Dank für all dies Schöne u. Herrliche, was Sie durch Ihre Composit. der Welt, u. somit auch mir zu Theil werden ließen, abstatten.
Wenn gleich ich nun bis ietzt Ew. Wohlgeb. mit meinem curriculum alter(???) incommodirte, so muss ich bitten: mir noch einige Augenblicke zu widmen, in denen ich eine Frage u. Bitte Ihnen noch ergebenst vorzugelegen habe.
Ein wissenschaftl. gebildeter 16jähr. Jüngling2, der einzige Sohn wohlhabender Aeltern hieselbst in Warschau, hat sich seit 4 Jahren dem Studium der Violine gewidmet. Sein Lehrer hat ihn bis ietzt so weit gebracht, dass er neulich ein Quintett v. onslow (op. 45 D min) ziemlich rein, u. taktfest, vortrug. Obgleich noch viel zu wünschen übrig, konnte man sich doch seines Vortrages erfreuen, u. sich überzeugen, dass er unter der Leitung eines Meisters Besseres leisten würde.
Seine sehr braven Aeltern liessen es ihm an Nichts fehlen, was nur irgend für geistige Bildung gethan werden konnte. Solche Jünglinge stüzten sich aber in der Regel auf das Vermögen ihrer Aeltern, u. werden mehrentheils jämmerliche Wichte für die menschliche Gesellschaft. Dieser Jüngling hingegen macht davon eine seltene Ausnahme. Nichts in der Welt ist ihm angenehmer, als das Ueben auf seiner Violine. Dabei ist sein jugendlicher Charakter so gediegen, sein Herz wie sein Gemüth noch so rein, u. sein Leben so einfach, dass ich dergleichen wenig fand.
Dieser Jüngling nun u seine Aeltern haben demnach mich ersucht, Sie Hochgeachteter! zu fragen und zu bitten:
ob, – unter welchen Bedingungen, und zu welcher Zeit Sie sich wohl dieses Jünglings, der fest entschlossen ist, sich mit Leib u. Seele der Kunst zu widmen, annehmen wollten?
Seine Liebe zur Kunst ist in der That sehr gross; doch noch grösser die Liebe und Hochachtung zu Ihnen. Tag und Nacht träumt er nur davon, wie er bald zu Ihnen kommen könnte.
Die allbekannte Liebe die Sie dergleichen Jünglingen Ihr ganzes Leben hindurch zu Theil werden liessen, gab auch mir Muth zu meiner Bitte.
Einer gütigen Antwort bin ich im Voraus überzeugt; doch die Erfüllung unsers ausgesprochenen Wunsches würde eine sehr grosse Freude in den Herzen des Jünglings & seiner Aeltern hervorbringen.
Ich aber als unbedeutender Fürsprecher bitte mir zu verziehen, dass ich zuerst die Bitte wagte, & sodann Ihnen so viel Zeit mit Durchsicht meines Briefes raubte.
Mit besonderer Liebe u. Hochachtung
Ew. Wohlgeb.


ganz ergebener Diener
Theodor Ressel.
Klavier Lehrer in Warschau.
Meth.(?) Straße (ulica miodowa)
in der Buchhandlung H. Gebrü-
der Merzbach ./.3



Ein in diesem Brief erwähnter Brief von Spohr an Ressel, 1830 ist derzeit verschollen. Spohrs Antwortbrief ist derzeit ebenfalls verschollen.

[1] Abk. f. „à quatre mains“ (frz.) = „vierhändig“.

[2] Sigismund Martin Landowski.

[3] Bei dem Zeichen „./.“ handelt es sich vermutlich um einen freimaurerischen Zusatz zur Unterschrift (vgl. Philippe A. Autexier, Lyra Latomorum. Das erste Freimaurerliederbuch. Masonica über Haydn Mozart Spohr Liszt, pdf-Version nach dem Typoskript im Deutschen Freimaurermuseum Bayreuth, S. 339f. und 348).

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (06.01.2022).