Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287[Kleinwächter,L.:11

Prag am 2. Jenner 1837.

Innigst verehrter Herr!

Der aller-pünktlichste Correspondent bin ich eben nicht, da ich Ihr liebes Schreiben vom 18. October v. J. erst heute beantworte; allein ich wollte mit dieser Antwort zugleich jene Sachen abgehen laszen, die ich Ihnen zu senden habe, und woran die Abschriften erst vor wenig Tagen fertig geworden sind. Mit dem Postwagen, der morgen von hier abgeht, erhalten Sie ein kleines Pacquet enthaltend die Copie Ihrer Vocalquartetten und eine Abschrift von 2 fünfstimmigen Chören von meiner Composition. Für die wunderlieben Gesänge1 die Sie mir in so theurer Form zukommen ließen bleibe ich für einige ewige Zeit in unbegränzter Schuld, Sie haben mir mit diesem Geschenke eine unaussprechliche Freude gemacht, geben Sie mir nun recht bald Gelegenheit meinen Dank werkthätig beweisen zu können! Das Ständchen mit dem zarten, poetischen Texte von Rückert sagt mir ganz besonders zu, die Musik ist so analog, gleichsam hingehaucht und spricht ungemein zur Seele. Die 4 Sänger waren gleichfalls innig über diese schönen Gesänge erfreut, sie werden sie sehr fleißig einüben und es sich zur größten Ehre und Freude machen, Ihnen dieselben einmal vorsingen zu dürfen.
Nicht ohne Beklommenheit lege ich die mitfolgenden Versuche im ersten Gesangfache vor Ihren Altar wieder, von Ihrer liebevollen Nachsicht hoffe ich nicht als unbescheiden verutheilt zu werden, wenn ich meine ungeübte Kraft an hohen Stoffen versuche. Sie kennen mich zu genau, um nicht zu wissen dasz der Wille gewiß nur meiin nach dem Wahren und Edlen gerichtet ist, möge dieser manchmal vor Ihrem Meister-Auge die beßre That vertreten! Jede Belehrung und Zurückweisung werde ich mit unendlichem Danke hinnehmen. Diese Gesänge sind übrigens schon seit langer Zeit vollendet. Den kürzeren (Dmoll) schrieb ich schon im Herbste 1833, den breiter ausgeführten fugirten im Winter 1835. Ich habe beide hier immer nur mit der Instrumental-Begleitung gehört, doch glaube ich, dz ein guter Singverein (der uns bis itzt noch immer fehlt2) dieselben unter den auf dem Titel bezeichneten Modalitäten auch ohne Unterstützung der Instrumente3 mit Effect werde geben können. Wenigstens habe ich schon gleich in der ersten Beilage diese Rücksicht genommen, und darum auch die Instrumente nicht selbständig, sondern durchaus nur den Gesang unterstüzend geführt. Von dem Streichquartette das ich – wie ich das letzte mal mittheilte – zu schreiben versuchte, sind zwei Sätze scizzirt, vom Scherzo und Finale ist nur noch ein ungeordneter Motivenbrei im Topfe. Wenn meine anderweitigen Beschäftigungen nicht hindernd entgegen treten, hoffe ich Ihnen die Partitur bei Ihrer versprochenen Ankunft in Prag vorlegen zu können. Wie herzlich und innig ich mich freue, Sie heuer wieder in unserer Mitte sehen zu können, wißen Sie selbst gewiß, wir wollen alles aufbieten um Ihnen und Ihren lieben Angehörigen den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Dasz Sie uns den Alchymisten selbst dirigieren wollen, ist ein herrlicher Gedanke, ich kann die Zeit kaum erwarten, wo ich Sie an der Spitze des Musik-Heeres (das freilich Ihnen noch vielmehr zu mustern geben wird) einer den Mauern unseres Theaters erblicken werde. Wenn unserm Publicum vor Freude nicht unsinnig schreit und lärmt, so will ich mich zeitlebens schämen, ihm anzugehören; allein ich hoffe dz sich der gute Geschmack, der hier doch nicht ganz verloren gieng4, auch hier zum Besten bewähren werde.
An Ihrem Berggeist wird so viel ich weiß studiert, hoffentlich wird er bald zur Aufführung kommen. Die Resultate werd ich Ihnen dann unvermittelt mittheilen. Die Erinnerung die Sie Ihrem Briefe hinsichtlich der beliebten Streichens5 der Musikstücke befügten war sehr gut, ich habe Stoeger selbst im Namen aller Musikfreunde ganz unverhohlen hierüber meine Meinung gesagt; wollte Gott dz die Sache beßer wird!
Sie frugen in Ihrem letzten Schreiben, was die Krönung6 Musikalisches nach Prag gebracht habe? So viel ich weiß, geschah gar nichts von Bedeutung, der flache, wässrige Crociato in Eggitto war pompeuse Krönungs-Oper!!!!7, die übrigens noch – um den Herrschaften nicht zu lange zu werden – derb beschnitten werden muszte. In dieser Beziehung ist es noch gut, dz nichts Beßeres zur Production gewählt worden. In den öffentlichen8 Hofconcerten war icht nicht, da mich alle Hofgeschichten unendlich anwidern, übrigens kam auch nichts Neues dabei vor. Unser alter Domcapellmeister Wittaschek9 hat für die Krönung ein neues Te Deum10 geschrieben, was gut sein soll, gehört habe ich es selbst nicht. Uiber unser neu-vaterländisches Product die Oper Lidwinna Musik von Dessauer, Text von Ebert werden Sie in den Zeitungen gelesen haben.11 Die Musik ist allerdings nicht ohne Werth, jedoch nur zu wenig teutsch, der böste Gast des fränkischen Schwindelgeistes treibt auch hierin gewaltig sein Spiel, wozu man gleich sagen muß, dz an vielen Rollen Herz und Phantasie offenbar verleuchten(???). Eine zweite böhmische Novität war eine Oper von unserm 2ten Capellmeister Skraup „die Geisterbraut“ wovon ich lieber schweige.12 Die Sache ist weit unter dem Nullpunkt des Schlechten. Morgen soll eine gleichfalls von einem hiesigen Dilletanten componirte Oper – von dem ich mir aber gleichfalls muß mehr erwarten – in einem blos für geladene Gäste und Damen veranstalteten Concerte zu Gehör gebracht werden. Hoffentlich heißt es dann wieder: Requiescat in pace13! Eine nicht unintereßante Erscheinung war eine neue Messe von Tomaschek, die das Conservatorium der Tonkunst zum Veni sancte spiritus gab. Die Sache ist recht sehr gut gearbeitet, nur läßt sie mich – wie alle seine Sachen kalt, denn mir scheint sie trocken und an manchen Orten steif. Die Recension14 darüber15 in der allgemeinen musicalischen Zeitung hat offenbar ein guter Freund geschrieben und der als Offertorium eingelegte Chor von Mozart – wovon die Recension schweigt – gab der Messe eine derbe Ohrfeige. Unser wackrer Veit – vor dem das erste Quartett itzt bei Hoffmeister erschienen ist – brachte im letzten Advent wieder ein neu componirtes Quintett zur Production (bei Pixis); das recht melodiös und gemüthlich gehalten ist, mir aber – das schöne Andante ausgenommen – weniger gefällt als seine frühern Arbeiten.16 Es würde mich sehr freuen von Ihnen das Urtheil über sein erstes Quintett – das ich Ihnen in Dresden übergab – so wie auch über Horaks Requiem für Männerstimmen17 – das ich Ihnen unter einem mittheilte, zu vernehmen. Die Bekanntschaft Haubtmanns18 - die mir Ihre Güte verschaffte – war mir sehr angenehm und intereszant, leider war die Zeit zu kurz um sie genauer werden zu lassen. Sollte er sicher von seiner Reise zurück sein so bitte, mich ihm herzlich zu empfehlen. Ich hätte beiden Herrn sehr gerne irgend eine Acquisition für Cassel procurirt19; allein es war damals hier durchaus nichts zu machen. Nun genug Musicalisches! Am Schluße will ich Ihnen nur noch sagen, wie innig und freundlich wir Ihnen das Beste beim Wechsel dieses Jahres wünschen. Möge die waltende Vorsehung Ihren Pfad mit Blumen schmücken, und noch lange zur Ruhe und zur Ehre unsers lieben teutschen Vaterlandes den Meister uns erhalten, den wir so unendlich lieben und ehren. Da ich weiß, dz Sie auch an uns einigen Antheil nehmen, so muß ich Ihnen sagen, dz auch ich dieß neue Jahr mit schönen Hoffnungen betrete. Ich bin gesonnen, mich dieß Frühjahr zu vermählen, und hoffe Ihnen bei Ihrer Ankunft meine künftige Frau20 aufführen zu können. Wir bleiben mit meinem Vater21 und meiner Schwester22 in vereinter Haushaltung und hoffen itzt erst wieder den durch die Ihnen bekannten Todesfälle so lange ermüdeten Familienkreis23 froh und glücklich aufblühen zu sehen. Jedes Lob, was ich dem Gegenstand meines Herzens gegen Sie zollen würde, müßte von meiner Seite befangen scheinen; darum hier nur so viel: dz ich ganz glücklich zu werden überzeugt bin, und dz ich sehr erfreut bin Ihnen sagen zu können, dz die Familie Kleinwächter ein Glied mehr erhält, welches in der bekannten – ich möchte fast sagen – abgöttischen Verehrung unseres hohen Meisters Spohr nicht zurück bleibt, und sich – wenn gleich noch unbekannten Weise – schon itzt Ihnen innigst empfiehlt. Dasz ich auch unter solchen Umständen auf die im vorigen Jahre projectirte Salzburger Reise unsinnig freue, bedarf keines Wortes. Habe ich dann doch alles vereint, wohin mich men Herz schon so lange gezogen! Vergeben Sie mein endloses Schreiben, ich muß denn doch berichten, Sie nicht zu ermüden, ich bitte mich Ihren Angehörigen in meinem und unser aller Namen herzlich zu empfehlen, und sehe mit froher Erwartung baldigen Nachrichten von Ihnen entgegen.
Mit unbegräntzer Hingebung

Ihr
Louis Kleinwächter

NS. Zwei Dinge vergasz ich zu berichten:
1. dasz ihr Oratorium: die „letzten Dinge“ zu Ostern (anstatt zu Weihnachten, wo wir die Schöpfung hörten) hier gegeben werden soll.
2. dz mir Ihr Lied mit 4händigem Pianoforte Begleitung (aus dem Album)24 außerordentlich gefällt.



Dieser Brief ist die Antwort auf den derzeit verschollenen Brief Spohr an Kleinwächter, 18.10.1836. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Kleinwächter an Spohr, 06.06.1837.

[1] Op. 90.

[2] „fehlt“ über der Zeile eingefügt.

[3] „Instrumente“ über gestrichenem Wort („Sängern“?) eingefügt.

[4] „gieng“ über gestrichenem „hat“ eingefügt.

[5] Vgl. Kleinwächter an Spohr, 06.08.1834.

[6] Vgl. Ceremoniel bei der Krönung Seiner Majestät Kaiser Ferdinand I. als König von Böhmen, [Prag 1836].

[7] Vgl. „Theaterbericht vom 5. September“, in: Bohemia 09.09.1836, nicht paginiert.

[8] „öffentlichen“ über der Zeile eingefügt.

[9] „Wittaschek“ über der Zeile eingefügt.

[10] „Telegraf von Prag“, in: Bohemia 04.12.1836, nicht paginiert.

[11] Vgl. „Ueber die neue romantische Oper ,Lidwinna‘ von Ebert und Dessauer“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 38 (1836), Sp. 797-807; „Aus Prag“, in: Neue Zeitschrift für Musik 5 (1836), S. 145f. und S. 149ff., hier S. 149ff.; „Theaterbericht vom 30. September“, in: Bohemia 02.10.1836, nicht paginiert.

[12] Vgl. „Prag“, in: Allgemeine musialische Zeitung 38 (1836), Sp. 850-854, hier Sp. 850f.; „Theaterbericht vom 17. November“, in: Bohemia 20.11.1836, nicht paginiert.

[13] „Requiescat in pace“ = lat. „Er ruhe in Frieden“.

[14] „Prag“, in: Allgemeine musialische Zeitung 38 (1836), Sp. 850-854, hier Sp. 853f.

[15] „darüber“ über der Zeile eingefügt.

[16] Vgl. „Telegraf von Prag“, in: Bohemia 06.12.1836, nicht paginiert.

[17] Vgl. „Telegraf von Prag. Die Prüfung der Gesangschüler und die Aufführung der zum diesjährigen, vom Vereine der Kunstrfreunde für Kirchenmusik in Böhmen ausgeschriebenen, Preisconcurse eingesendeten Compositionen“, in: Bohemia 19.08.1836, nicht paginiert.

[18] Sic!

[19] „procuriren“ = „verwalten, ausmitteln, verschaffen“ (Friedrich Erdmann Petri, Gedrängtes Deutschungs-Wörterbuch der unsre Schrift- und Umgangs-Sprache, selten oder öfter entstellenden fremden Ausdrücke, zu deren Verstehn und Vermeiden, 3. Aufl., Dresden 1817, S. 375).

[20] Friederike Helminger, später verh. Kleinwächter.

[21] Ignaz Kleinwächter.

[22] Caroline, später verh. Skraup.

[23] Hier ein Wort gestrichen.

[24] Louis Spohr „Sangeslust“ [= WoO 95], in: Album Musical. Sammlung der neuesten Original Compositionen für Piano und Gesang, Leipzig [1836], S. 71.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (28.03.2019).