Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Ihrer freundlichen Erlaubniß zu Folge, mein innigst verehrtester Freund! kündige ich mich Ihnen zum 22ten und 23ten d.M. den; mögte es doch nun gelingen, daß ich an einem dieser beyden dortigen Theater-Tage Jessonda zu hören bekommen!! – ich werde am 22ten Mittags dort eintreffen, vielleicht auch schon 10-11 Uhr; wäre also zu der Zeit etwa gerade eine interessante Probe: so würden Sie mich verpflichten, mich davon bey Hr Heinrich im König von Preußen einen Avis vorfinden zu lassen, um aus dem Wagen sofort in solche Probe zu wanken.
Sollten gerade der Jessonda unüberwindliche Hinderniße im Wege stehen: so bedarf es wohl meiner Erwähnung nicht, daß auch jede andere Oper von Ihnen mir interessanter und lieber seyn wird, als jedes andere durch Ihre freundlihcen Vorschub etwa zu wählende Werth! – Doch will ich nicht leugnen, für die Jessonda wahrlich eine Art gemüthlichen Heißhungers zu empfinden! – Ganz neuerlichlich habe ich ein Piece daraus, welche schon in Alexisbad mich so oft entzückte1, von 24 Harmonikern mit einer Decoration recht gut ausführen gehört, die solche Ihnen Selbst doppelt interessant gemacht haben würde! – nämlich – in dem Bauche des ungeheuren Wallfisches!! –
Und so läßt sich denn die Frankfurter Theater-Direction von dergleichen wandernden Banden in der Wahl ihrer Aufführungen unter bringen! – Ein erbämlicheres Theater-Repertoir, als das dieser so überaus brillanten Messe ist nicht zu erdenken! –
Gleichen Abend meiner Ankunft in Frankfurt wurde Norma von Bellini gegeben, – in so fern zu meinem Glück dieses so genannte Meister-Werk des angestammten Flachkopfes, als ich noch durch dessen übermäßiger Langweilichkeit und Armuth, trotz aller Trompeten nun gleich genügend gewarnt war, keine der übrigen Opern dieses alldort jetzt an der Tagesordnung seyenden Sudeleyen-Genius weiter zu besuchen, u so ging ich denn2 ein anderes Mahl, als eine Nagel-neue Oper desselben Oevre posthumo,! – die Puritaner zum ersten Mahle u dann gleich mehrere Mahle hintereinander gegeben wurde, statt dessen in die Kunst-Reiter-Bude des Hn Tourmaine, wenngleich auch diese nicht classisch in ihrem Fache sind! –
Wie sehr übrigens auch das dasige Publikum durch die Verderbniß des Orchesters pp nach u nach verdorben ist, gehet daraus hervor, daß z.B. Robert der Teufel von Meyer-Beer schon zu ernsthaft u zu gelehrt ist! – Das bey Bellini stets überfüllte Haus war dabey, mitten in der Messe, übermäßig leer! – Die Ausführung war, wenn man zu Mahl an das frühere Frankfurt denkt, ebenfalls schlecht! – Doch was es mir ein interessanter u angenehmer Abend, wenn gleich diese Oper die ernste Schwester des Pariser Journales „Le voleur“ ist, – eine wahre Revista aller möglichen Componisten u Opern! – doch – so für den einen Abend, ist häufig anziehendes gestohlenes Gut jeden Falles besser als die originaleste Sudeley des Bellini! – de nebenbey auch noch den Johann Balhorn3 spielt! –
Sodann habe ich am 28sten den Gusikow im Theater gehört, u bin Ihnen neuerlich dankbar, daß Sie mir Muth machten, dieser vermeintlichen Spielerey nicht aus dem Wege zu gehen! – Es ist, das Originelle des Instrumentes, – was eigentlich gar kein instrument ist, – ganz weg gedacht, eine Vereinigung von Praecision, Deutlichkeit, Klarheit u Nettigkeit mit so viel Lieblichkeit, Eleganz, Geschmack u Feuer in dem gleichwohl sehr ruhigen Vortrage, daß man die leistung in wahrem Verstande virtuos nennen muß! – u ich verdanke jetzt dem Möser nicht mehr, daß er sich in Hannover mit diesem polnischen Juden für seine Concerte vereinigte! –
Er debütirte mit dem Glöckchen-Concert von Paganini, – was ich von diesem selbst vor 7 Jahren auch in Frankfurt hörte; – u ich will gestehen, daß ich diese Composition ungleich characteristisch-paßlicher für dieses berede(?) Holz-Glocken-Instrument, u daher in dieser meisterhaften Ausführung ungleich genialer gefunden habe, als unter des Wunder-Geigers Bogen! –
Da es ohne Versäumniß in der Cur geschehen kann: so benutze ich meine Pferde häufig zu diesen Excursionen nach Frankfurt; indem ich nach dem Bade weg fahre, Brunnen zum Trinken für Abend und Morgen mitnehme, und zu dem um ein Paar Stunden späteren Bade des andern Tages wieder hier bin; was mir, wie die ganze Cur, ungeachtet des meistens übelen Wetter’s gar vortreflich bekommt. – Mögte man damit nur besseres in dem früherhin so interessanten dasigen Theater zu erjagen Gelegenheit haben? –
Montag wird Wilhelm Tell von Rossini gegeben; da ich die auch öfter als eines seiner besseren Werke gerühmte Oper nicht kenne: so werde ich dazu hinüber fahren, da der Rossini mit allen seinen vorigen Wiederholungen mir denn doch wenigstens noch um 100 % lieber ist, als sein, zum Glück für die ausgebildeteren Theater-Freunde, nicht zu alt gewordenem Schüler Bellini, außer dem man dort jetzt fast nichts hören kann! –
Sollte eine Ihrer Opern nicht ins Werk zu stellen seyn: so darf ich mich denn ja doch noch Ihnen und Ihrer innigst verehrtesten Frau Gemahlin so freundlicher Verheißung jeden Falles auf die unübertrefliche Ausführung Ihrer genialen Sonaten freuen! – und das ist mir schon ein für viele meisterliche musikalische Entbehrungen entschädigende4 ein wahrer Leuchtpunkt(???) auf der ganzen Reise gewesen! – Innigst dankbar
Ihr wärmster Verehrer
Lueder.
Wiesbaden am 1sten October 1836.



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Lueder an Spohr, 10.01.1835. Der nächste erschlossene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Lueder, 29.12.1836.

[1] Vgl. Lueder an Spohr, 05.02.1834.

[2] „denn“ über der Zeile eingefügt.

[3] Vom Buchdrucker Johann Ballhorn leitet sich der Begriff „verballhornen“ im Sinne von „verschlimmbessern“ ab (vgl. Georg Büchmann, Geflügelte Worte. Der Citatenschatz des deutschen Volkes, 12. Aufl., Berlin 1880, 192).

[4] „entschädigende“ über der Zeile eingefügt.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (23.11.2020).