Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287[Kleinwächter,L.:09

Prag den 29 Septbr
1836.

Hochverehrter Herr!

Glauben Sie nicht, dasz Lauheit in Besorgung Ihrer Aufträge Ursache an mein langes Schweigen war. Ich habe mich gleich nach Empfang Ihres ersten Schreibens an Strakaty gewendet, habe denselben auch seit meiner Rückkunft vom Lande persönlich oft urgirt1, konnte aber immer keine bestimmte Antwort von ihm erhalten. Er entschuldigte sich stets mit dem – allerdings gegründeten – Umstande, dasz es nicht möglich war, mit Stoeger, dem die Krönungsangelegenheiten2 so viel zu thun gaben, ausführlich zu sprechen. Erst gestern erhielt ich von Strakaty in Folge eines neuen Urgens die definitive Entscheidung, die aber leider nicht entsprechend Ihren Wünschen ausgefallen ist. Stoeger, der ihn natürlich sehr wohl brauchen kann, hat ihn durch einen neuen vertheilhaften Contract wieder gewonnen, und Strakaty hat sohin seinen Plan, Prag zu verlassen, wieder aufgegeben. Es thut mir sehr leid, Sie in Ihren Vorkehrungen vielleicht aufgehalten zu haben; allein ich bin überzeugt dasz Sie diesen Mißstand nicht mir zurechnen, und tröste mich auch damit, diesz Ihnen dem Wankelmuth eines Sängers nichts Ungewohntes mehr sein kann. Sollte es Ihnen nicht unangenehm sein, so bin ich so frei, Sie auf einen Sänger aufmerksam zu machen, der – wenn er anders gegenwärtig frei ist, Ihren Forderungen und Bedürfniszen eben so gut, wo nicht besser, entsprechen dürfte: Es ist dieß Herr Ignaz Illner Hofsänger in Coburg. Er ist ein geborner Böhme, hat hier an der Universität studirt, und hat an der hiesigen Bühne seine Laufbahn als Sänger zugleich mit Strakaty begonnen. Bei der Uibernahme des Theaters durch Stoeger gieng er nach Wien und von da an den Ort seines gegenwärtigen Aufenthaltes. Er ist mit Strakaty ohngefähr im selben Alter, hat eine gute Figur, spricht einen reinen - obschon nicht ganz freien – Dialect, und hat eine, zwar nicht sehr angenehme, aber ungemein kräftige, und namentlich in der Tiefe auch ausgiebige Stimme. Uibrigens ist er durchwege musicalisch, besitzt Kenntniß der Harmonielehre, intonirt ganz rein, und ist auch im Spiel ziemlich – obschon nichts besonders – routinirt. Was seinen sonstigen Wandel betrift, so war er hier untadelig, auch war er immer bescheiden und anspruchlos. In seinen Forderungen dürfte er wohl auch nicht unmäszig sein. Kurz, wenn er – wie ich hoffe – in der kurzen Zeit seiner Abwesenheit sich nicht total geändert hat, so dürfte er den Platz eines Tiefbasses vollkommen ausfüllen. Zudem ist er auch in der Höhe gut, er hat den Umfang Ihres Mephisto – den er recht gut gab – volkommen in seiner Macht.
Ich habe ihm wegen der erledigten Stelle bei Ihnen unter einem geschrieben, sollte er sich an Sie verwenden, so wäre er einer Berücksichtigung nicht unwerth. Nun weiß ich nicht, wie vortheilhaft sein Platz in Koburg ist, und ob er geniegt ist, denselben aufzugeben. Es ist dieß derselbe Sänger, den ich Ihnen schon damals als ich in Marienbad das Glück Ihrer Gegenwart genoß, anempfahl. Es sollte mich sehr freuen, ihnen wenigstens dadurch einen Beweis gegeben zu haben, wie gerne ich Ihren Wünschen nachzukommen bereit bin.
Morgen hören wir eine vaterländische Novität. Herr J. Dessauer ein reicher Dilettant von jüdischen Eltern stammend, ein geborner Prager, der sich ganz der Musik hingegeben, bisher nur kleinern Sachen geschrieben hat, componirte eine Oper mit Text von Ebert, die morgen in die Scene geht.3 Ich bin sehr begierig auf die Sache, und erwarte wohl manches Gute, da Hr D. einen feinen Geschmack, schönes Talent, und Kenntniß des Satzes besitzt. Nur fürchte ich zu viel Hingeben an den Zeitgeist, namentlich an Frankreich, wozu sein längerer Aufenthalt in Paris beitragen mag, überhaupt kömmt er mir bis itzt so wie ein kleiner Meyer Beer vor, mit dem er Abstammung, Neigung zur Musik, und vieles Geld gemein hat. Jedoch will ich nicht urtheilen bis Morgen Abend. Nächstens sollen Sie von mir ausführlicher Bericht davon erhalten.
Ich muß schließen, es ist ziemlich spät Nachts, worin auch der Grund meines eiligen Geschmieres liegt, weßwegen ich um Vergebung bitte.
Unter herzlichstern Empfehlungen von uns allen an Sie und Ihr liebes Haus mit unbegränzter Hingebung Ihr

Louis Kleinwächter

Autor(en): Kleinwächter, Louis
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Dessauer, Joseph
Illner, Ignaz
Meyerbeer, Giacomo
Stöger, Johann August
Strakaty, Karl
Erwähnte Kompositionen: Dessauer, Joseph : Lidwinna
Erwähnte Orte: Prag
Erwähnte Institutionen: Ständetheater <Prag>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1836092931

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf einen derzeit verschollenen Brief von Spohr an Kleinwächter. Spohrs Antwortbrief vom 18.10.1836 ist ebenfalls verschollen. Der Postweg des Antwortbriefs überschnitt sich mit dem von Kleinwächter an Spohr, 21.10.1836.

[1] „urgiren“ = „drängen, dringen, etwas treiben auf Etwas bestehn“ (Gedrängtes Deutschungs-Wörterbuch der unsre Schrift- und Umgangs-Sprache, selten oder öfter, entstellenden fremden Ausdrücke zu deren Verstehen und Vermeiden, hrsg. v. Friedrich Erdmann Petri, 3. Aufl., Dresden 1817, S. 472).

[2] Vgl. Ceremoniel bei der Krönung Seiner Majestät Kaiser Ferdinand I. als König von Böhmen, [Prag 1836].

[3] Vgl. „Ueber die neue romantische Oper ,Lidwinna‘ von Ebert und Dessauer“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 38 (1836), Sp. 797-807; „Aus Prag“, in: Neue Zeitschrift für Musik 5 (1836), S. 145f. und S. 149ff., hier S. 149ff.; „Theaterbericht vom 30. September“, in: Bohemia 9 (1836), nicht paginiert.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (26.03.2019).