Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287[Kleinwächter,L.:08

Niemierschitz den 24. August
1836.

Innigst verehrter Herr!

Ihr unendlich liebes Schreiben vom 14. dieß habe ich vorgestern erhalten, und säume nicht, sogleich an dessen Beantwortung zu schreiten. Ich muß gestehen, dz1 mich die Beschämung ergriff, als ich die Schriftzüge Ihrer Hand erblickte, denn es war mein fester Vorsatz, Ihnen sogleich, als ich Sie wieder in Cassel wußte, zu schreiben, und der Traum ist itzt schon wieder fast um2vier Wochen überschnitten. Es bleibt mir itzt nichts anderes übrig, als durch den fleißigsten Eifer in Besorgung Ihrer Wünsche meine Läßigkeit wieder gut zu machen. Leider ist mir es itzt physisch unmöglich, so schnell vorzugehen, als ich gerne möchte. Wie die Uiberschrift dieser Zeilen nachweist, befinde ich mich itzt nicht in Prag, sondern lebe auf dem Landgute eines meiner Freunde3, dem ich den Besuch schon lange versprochen habe. Die Vorkehrungen, die von hier aus zu thun waren, sind jedoch getroffen, und ich hoffe entweder noch hier oder bei meiner Rückkunft nach Prag – die in längstens 8 Tagen erfolgt – Ihnen die verlangten Auskünfte schreiben zu können. So viel ich ohne weitere Erkundigung weiß, will ich auch gleich mittheilen. Das Alter des H. S.4 schätze ich zwischen 28-32 Jahre, seine Figur ist groß, sehr einnehmend, schlank und für das Theater vergnüglich. Er hat ein schwarzes, urtümlich gelocktes Haar und einen feurigen Blick. Haltung und Gang könnten freilich besser sein, allein hierin ließe sich vielleicht noch nachhelfen, um so mehr als H. S. sehr willig Belehrung annehmen wird. Da Spiel ist nicht besonders, er bewegt sich noch nicht frei und unbefangen genug auf dem Theater, am schwierigsten wird ihm Legerté Noblesse und Chevalerie5, jedoch verdirbt er gerade nichts auffallend. Der böhmische Dialect ist Ihnen nichts Neues mehr. Uibrigens muß ich meine Empfehlung namentlich hinsichtlich seiner sehr schönen, ausgezeichnet wohlkingenden, weichen Stimme, von sehr vielem Umfange ([Nbs]) und rücksichtlich seiner besondern musikalischen Fertigkeit im Sistiren6, Eintheilen udgl. nur wiederholen. Er ist übrigens recht sehr bescheiden, ungemein willig, gutmüthig, und recht ordentlich in sittlicher Hinsicht, überhaupt im Ganzen ein sehr schätzenswerthes Bühnensubject. Die weiteren Fragen werde ich nächstens beantworten.
Wie oft und innig wir alle der schönen Tage, die wir mit Ihnen verlebten uns erinnerten, brauche ich wohl nicht erst zu erwähnen. Möchten doch bald wieder Gelegenheit werden, eine ähnliche genußreiche Reise in Ihrer Gesellschaft zu unternehmen! Wie unendlich Sie uns durch die vorgenommenene Widmung erfreuen, ist gar nicht zu sagen. Wie sollen wir genug danken für den so schönen und zarten Beweis Ihrer lieben lieben Erinnerung? Seien Sie versichert, dasz unsere unbegränzte Verehrung und Anhänglichkeit an Sie – deren Steigerung nicht mehr möglich ist – darin ihren schönsten Triumph, ihren höchsten Stoltz gefunden hat. Ist es nicht unbescheiden von mir, wenn ich gerade itzt an Ihr gütiges Versprechen erinnere, mir das bewußte Portrait im Käppchen und Schlafrock so wie das eine Lied von der Hanne, Pfanne und Kanne7, nebst der Partitur der letzten Männerquartette senden zu wollen? Vergeben Sie mir; allein in derlei Angelegenheiten bin ich unersättlich, und die Sehnsucht nach geliebten Dingen macht oft die Schranke der Bescheidenheit vergessen. Haben Sie das Quintett von Veit schon gespielet, ich möchte gar zu gerne Ihr Urtheil darüber, so wie über das Lied von Kittl vernehmen. Seit meiner Rückkunft von Dresden habe ich meine Ouverture für das ganze Orchester beendet. Ich war sehr erfreut, dz er Erfolg meinen Fleiß belohnte, umsomehr als dieß mein erster Versuch im vollständigen8 Instrumentalsatz ist. Weber probirte sie im Conservatorium und ich muß sagen, dz der Erfolg meine Erwartung übertraf, indem ich mit sehr großer Aengstlichkeit an die Probe gient. Eine unbedeutende Stelle von 2 Takten werde ich in der Instrumentirung ändern, und dann will sie Weber in den Concerten des Conservatoriums im nächsten Winter der Oeffentlichkeit vorführen. Dürfte ich es wohl wagen, Ihnen eine Abschrift der Partitur zur Beurtheilung zu verehren? Ich würde demselben auch noch etwas von meiner Vocal-Kirchen-Composition zu gleichem Zwecke beilegen. Gegenwärtig habe ich ein Quartett für Streichinstrumente versucht, wovon der erste Satz in der Skizze fast ganz9 fertig ist. Ich kann sagen, dz ich sehr viel Respect vor diesem Genre habe, und mit Bangen dem Erfolge entgegensehe. Sie sehen, hochverehrter Herr, dz meine Vorsätze, soviel wie möglich im Gebiete der Musik in meinen freien Stunden zu arbeiten, nicht aufgegeben sind, und ich wünsche nichts anders, als im Leben immer einige Zeit dieser herrlichen Genüssen widmen zu können.
An Hesse werde ich eben itzt schreiben, ich bin auch noch immer nicht dazu gekommen, mein Wort in dieser Beziehung zu lösen. Wie gefällt Ihnen seine – ich glaube neueste – Sonate in As dur für Pianoforte a 4 mains, Ihrer verehrten Frau Gemahlin? (ich weiß nicht ob der frühern oder itzigen) decidirt? Ich erhielt sie erst unlängst von Berra. Ich will durchaus nicht mit meinem Urtheile vorgreifen, allein sie kömmt mir – bei vielen innern Vergnügen etwas fad vor. Bevor ich schließe, muß ich noch eine Bitte thun. Da die Stimmung des Publicums in Prag sehr günstig, und Stoeger nicht abgeneigt scheint, so dürfte es wohl nicht schwer halten, wieder10 eine Ihrer wundervollen Opern in Prag in Scene zu bringen. Schreiben Sie dennoch doch gefälligst, wie sich Sie das Honorar Ihrer Opern – Faust und Jessonda ausgenommen, die schon hier sind, einzeln stellen, und welche Sie am geeignetsten finden. Ich würde das Weitere dann unmittelbar mit Theaterdirector Stoeger besprechen.
Indem ich bitte, der verehrten Frau Gemahlin und Fräulein Tochter meine herzlichste Empfehlung zu sagen

bleibe ich mit unbegränzter Ergebung
Ihr
Louis Kleinwächter

NS. Bedenken muß ich noch, dz in der ersten Hälfte des nächsten Monates an eine Entfernung des Herrn Sto-g11 von Prag – der Krönung12 wegen – wohl nicht zu denken ist.



Dieser Brief ist die Antwort auf den derzeit verschollenen Brief Spohr an Kleinwächter, 14.08.1836. Spohrs Antwortbrief ist derzeit ebenfalls verschollen.

[1] „dz“ = Abk. f. „dasz“.

[2] „um“ über gestrichenem Wort eingefügt.

[3] Vermutlich Johann Weitlow (vgl. Schematismus für das Königreich Böhmen (1836), S. 177).

[4] Karl Strakaty (vgl. Kleinwächter an Spohr, 29.09.1836).

[5] „Legerté Noblesse und Chevalerie“ = „Leichtigkeit, Vornehmheit und Raffinesse“.

[6] „Sistiren“ = „sich stellen, darstellen, einfinden; einhalten oder Einhalt thun“ (Gedrängtes Deutschungs-Wörterbuch der unsre Schrift- und Umgangs-Sprache, selten oder öfter, entstellenden fremden Ausdrücke zu deren Verstehen und Vermeiden, hrsg. v. Friedrich Erdmann Petri, 3. Aufl., Dresden 1817, S. 429).

[7] Louis Spohr, „Das Wirtshaus zu ...“, WoO 93.

[8]  „vollständigen“ über der Zeile eingefügt.

[9] „fast ganz“ über der Zeile eingefügt.

[10] „wieder“ am rechten Rand eingefügt.

[11] Johann August Stöger.

[12] Vgl. Ceremoniel bei der Krönung Seiner Majestät Kaiser Ferdinand I. als König von Böhmen, [Prag 1836].

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (26.03.2019).