Autograf: Spohr Museum Kassel (D-Ksp), Sign. Sp. ep. 1.2 <18360531>
Beleg: Autographen. Historische Autographen, literarische Autographen, Musiker, Schauspieler und bildende Künstler, Stammbücher. Versteigerung am 20., 21. und 22. Oktober 1926 (= Katalog Liepmannssohn 48), Berlin 1926, S. 174f.

Breslau d. 31. Mai 1836.
 
Mein hochverehrter Herr Kapellmeister!
 
Damit unsere Korrespondenz nicht ganz und gar in’s Stocken gerät, muß ich noch schnell einmal an Sie schreiben, damit ich wo möglich noch vor Ihrer Abreise mich einer lieben Zuschrift erfreuen kann. Wohin Sie eigentlich reisen, weiß ich nicht, nur so viel las ich in der mus: Zeitschrift, daß Sie auf Ihrer Sommerreise einige Tage in Leipzig verweilen wollen.1
Gegenwärtig entzücken uns die Gebrüder Müller mit ihrem herrlichen Quartettspiel und erfreuen sich hier großer Theilnahme;2 so hörten wir gestern Abend auch Ihr schönes Quartett in d moll in 6/4. Wie soll ich Ihnen meine Empfindungen bei Anhörung dieses Quartetts schildern? Ich schloß die Augen und versetzte mich im Geiste nach Halberstadt, wo ich so glücklich war, dieses Quartett an Ihrer Seite zu hören. Alle glücklichen Bilder jener schönen Zeit stiegen in mir auf; ich dachte Ihres Vaterunsers, Ihrer Doppel-Konzertante in h moll usw. Um so wehmütiger war ich dann gestimmt, da ich diesen Sommer keine Aussicht zum Reisen habe, und Sie in Ihrem neuen beglückenden Verhältnisse nicht sehen werde, indem meine vorjährige Reise, so wie die Anschaffung des Grafschen Pianoforte eine Ausgabe von 700 Thalern verursachte, und ich daher wieder Kräfte sammeln muß.
Im März war Klara Wieck aus Leipzig bei uns, und gefiel sehr;3 leider ist ihr Vater stets bemüht den guten Eindruck, welchen das unbefangene Mädchen ausübt, durch sein marktschreierisches, arrogantes Wesen und seine despotische Härte gegen Klara ganz zu vernichten. Moscheles, Hummel, Kalkbrenner können alle nichts, selbst Chopin spielt seine Sachen nicht so gut wie Klara. Ich lieh ihr zum ersten Konzert mein Grafsches Pianoforte, das himmlisch klang. Diesen romantischen Harmonika-Ton in den Mitteltönen und das wahrhafte Glockenspiel in den höchsten hat doch kein Streichersches Instrument.
Zum Herbst kommt Ihr neues Oratorium unter Siegerts und meiner Leitung in unserer Kirche Abends bei Erleuchtung derselben zur Aufführung4, und werde ich hoffentlich bis dahin eine passende Einleitung für meine imposante Orgel ausgedacht haben.
Nun leben Sie wohl und erfreuen Sie recht bald mit einer Zuschrift
 
Ihren ergebensten Verehrer
Adolph Hesse.
 
NS. Naß hat im Februar seinen einzigen Sohn durch den Tod verloren, er war noch das einzige Bindungsmittel eines jetzt immer lockerer werdenden ehelichen Verhältnisses.
N. so wie die Müllers empfehlen sich ergebenst.



Dieser Brief folgt auf Hesse an Spohr, 20.01.1836. Spohr beantwortete diesen Brief am 09.06.1836.
 
[1] „Vermischtes”, in: Neue Zeitschrift für Musik 4 (1836), S. 131f., hier S. 132; zu Spohrs Reiseziel vgl. Spohr an Hesse 09.06.1836.
 
[2] Vgl. August Kahlert, „Aus Breslau”, in: Neue Zeitschrift für Musik 5 (1836), S. 77f.
 
[3] Vgl. „Vermischtes”, in: Neue Zeitschrift für Musik 4 (1836), S. 112; August Kahlert, „Aus Breslau”, in: ebd. 5 (1836), S.77f., hier S. 77.
 
[4] Vgl. Hesse an Spohr, 11.12.1836.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders vermerkt: Karl Traugott Goldbach (17.12.2014).