Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Wohlgeborner Herr,
Hochverehrter Herr Kapellmeister!

Euer Wohlgebohren geehrtes Schreiben vom 10 Dec. v. J. habe ich deshalb bis jetzt nicht zu beantworten Anstand genommen, weil der Musik Director unseres Vereines beabsichtigte, bei Gelegenheit einer nach Corvey zu dem Fürsten von Hohenlohe-Schillingsfürst1 zu machenden Reise sich die Erlaubniß zu erbitte, Euer Wohlgebohren in Cassel aufwarten zu dürfen um über die Mittel des Vereins und über die Aufführung des neuen Oratorium resp. Auskunft zu geben und Anleitung zu erbitten. Leider ist aber die Reise, welche Herr Musik Direktor Ketschau mit seinem Scholaren, den jungen Prinzen von Hohenlohe gemacht hat nicht über Cassel gegangen und dadurch unsere Absicht vereitelt worden.2
Mit dem verbindlichsten Danke erkenne ich Euer Wohlbohren gütiges Erbieten, Ihr neues Oratorium unter eigener Leitung hier zur Aufführung zu bringen; die derfalls den Mitgliedern mitgetheilte Nachricht hat allgemein Freude erregt. Wie aber fast jede Freude auch ihr Herbes hat, so tritt auch dabei der Umstand hindernd entgegen, daß die Ferienzeit (Mitte Juni bis Endel Juli) für den Verein bereits in Gefolge früherer Verbindlichkeiten mit andern Leistungen theils für den hiesigen Dom theils für sein eignes heiteres Richtungsfest besetzt ist und eine Abänderung darunter nicht zu bewirken steht. Auch die fernere Bedingung der Aufführung des Oratorium in einer Kirche und Benutzung der Orgel möchte, wenn auch nicht unmöglich, doch schwierig seyn, da derartige Aufführung nach unserer Verfassung nur mit Erlaubniß des Königs stattfinden dürfen. Die Zuziehung fremder Künstler hat übrigens deshalb nicht in unserm Plane gelegen, weil das im Jahre 1831. von Herrn Naue ohne unsere Mitwirkung veranstaltete Musikfest, das überdieß von vielen glücklichen Umständen begünstigt wurde, ein Deficit von mehr als 1200 Rth. verursacht hat, an dessen Deckung hiesige gutwillige Einwohner noch heute laboriren.3 Nun bin ich zwar weit entfernt, Herrn Naue für den geeigneten Mann zu einem solchen Unternehmen zu halten und der Verein hat auch aus diesem Grunde seine Mitwirkung versagt: indessen liegt das Resultat vor aller Welt Augen und Mancher, der sonst wohl Vertrauen hatte, versagt jetzt aus Bangigkeit, was er früher gern zugeben hätte. Der Verein ist aber nicht im Stande, aus seinen finanziellen Mitteln allein einen doch immer möglichen Verlust zu decken. Vielleicht ist es Euer Wohlgebohren nicht unangenehm einen Freundschaftsbericht, den der Verein Ausgangs 1834. erstattet hat, zu perlustriren4 und ich schließe ihn deshalb gehorsamst bei.
Unser Wunsch geht dahin, das Oratorium am Karfreitage aufzuführen; wir müßten uns dazu des Saales im Schauspielhause bedienen, worin ungefähr 1000 Zuhörer Platz finden. Leider ist eine Orgel nicht vorhanden und wir müßten uns also mit Surrogaten helfen. Ließen es Euer Wohlgebohren Berufsgeschäfte zu zu dieser Zeit hierher zu kommen und die Leitung der Aufführung zu übernehmen, so würden Sie mit Freuden empfangen und mit dankbaren Herzen verehrt werden. Haben Sie die Güte mir darüber Ihren Entschluß gefälligst mitzutheilen.
Für die gütigst übersandten Abschriften aus dem Berggeist und Pietro v. Abano schließe ich den Betrag der Kopialien mit ¾ Rth., gehorsamst dankend, bei und bitte die Versicherung meiner Verehrung zu genehmigen, womit ich stets verharre

Euer Wohlgeboren
ganz ergebenster Diener
Daniel

Erfurt 11 Febr 1836.



Dieser Brief ist die Antwort auf den derzeit verschollenen Brief von Spohr an Daniel, 10.12.1835. Spohrs Antwortbrief vom 19.03.1836 ist derzeit ebenfalls verschollen.

[1] Franz zu Hohenlohe-Schillingsfürst.

[2] Aus der Studienzeit des späteren Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst bei Andreas Ketschau ist ein Brief des Schülers an seine Schwester Amalie von 03.03.1836 überliefert (in: Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, hrsg. v. Friedrifch Curtius, Bd. 1, Stuttgart und Leipzig 1907, S. 4f., hier S. 4).

[3] Zum Musikfest vgl. „Erfurt“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 33 (1831), Sp. 560ff.

[4]perlustriren, durchsehn, durchmustern, durchschauen“ (Gedrängtes Deutschungs-Wörterbuch der unsre Schrift- und Umgangs-Sprache, selten oder öfter, entstellenden fremden Ausdrücke zu deren Verstehen und Vermeiden, hrsg. v. Friedrich Erdmann Petri, 3. Aufl., Dresden 1817, S. 174). 

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (10.06.2020).