Autograf: Universitätsbibliothek Kassel – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287[Ries,H.:3

Berlin d 4t December 1835.

Sehr verehrter Herr Kapellmeister!

Beikommend übersende ich Ihnen 68 Rth für 17 Exemplare Ihres Oratoriums „des Heiland’s letzte Stunden“ mit der Anmerkung, daß Herr Curschmann vor etwa drei Monaten nach Paris gereist ist. Sollte ich Gelegenheit finden dieses Exempl. anderweitig zu verkaufen, so übersende ich den Betrag davon nachträglich. – Es bliebe jetzt nur zu wünschen übrig, daß unsere Akademie nicht zu lange saumte und, und Ihr vortreffliches Werk in der nächsten Charwoche zur Aufführung brächte.
Wenn sich nicht zu viel Hindernisse dem M.D. Schärtlich in Potsdam in den Weg stellen, so bezweifle ich nicht, daß dieser unser Singakademie zuvor kommen wird.
Mit großem Bedauern habe ich Ihren abermaligen Verlust vernommen, der nur durch die Zeit verschmerzt werden kann; auch ich habe dieses durch den Verlust Eines meiner drei Kinder empfunden, welches vergangenen Juli gestorben ist.
Das Arbeiten pflegt dabei die beste Zerstreuung zu sein, und so habe ich in musikalischer Hinsicht dem Winter entgegen gearbeitet, indem ich mit Fleiß meine Quartetts betrieben habe, deren dritte Versammlung am vergangenen Montag stattgefunden hat. Das d moll Quart.1 von Ihnen habe ich in der 2t Versammlung gespielt2, und das Nächstemal werden wir Ihr Clavier Quintett in C moll spielen. Zu der Erweiterung mit Clavier Comp.3 war ich genöthiget, da sich ein neuer Quartett-Verein4 dem Meinigen entgegen gestellt hat, der, wäre es auch blos durch die Sucht der Berliner, Partheien zu bilden uns in pecunierer Hinsicht geschadet hat. Ich bezweifle daher auch, daß wir den zweiten Cyclus eröffnen, um so mehr als ich eine Reise nach Petersburg im laufe des Winters zu machen gedenke. Einige Empfehlungen von Ihnen, oder freundliche Rathschläge wären mir gewiß von großer Wichtigkeit, und würden mich gewiß noch hier antreffen, da ich meinen Urlaub vom 20t Jan. 1836 begehrt habe. Sie würden mich sehr geehrter Lehrer u Gönner [durch die Gewährung meines Wunsches]5 auf’s Innigste verpflichten. – Daß ich wieder einmal von hier weg muß, um neue Lebenskraft zu bekommen, fühle ich nur zu sehr, und darf damit nicht zu lange warten, wenn es von Nutzen sein soll.
In vergangener Woche ist David, welcher sein engagement in Dorpat aufgegeben hat, hierdurch nach Leipzig gereist. Es hat mich sehr gefreut diesen jungen Menschen, den ich als Knabe schon gekannt, so vortheilhaft verändert gesehen zu haben. D. besitzt eine sehr große Fertigkeit, und einige seiner Compositionen die er mir vortrug, haben (wenn gleich etwas auf die neuesten Violin-Comp. neuerer Zeit6 basirt) ein eigenthümliches Gepräge; nur einen Mangel möchte ich ihm vorwerfen, nämlich daß seine Intonation nicht vollkommen rein ist, am fühlbarsten ist dieses bei schnellen Tonleitern. –
Unser musikalisches Treiben, ist trotz Ueberhäufung an Conzerts &c nur von geringer Bedeutung. Von der Oper verspricht sich für die Zukunft Spi. sehr viel; Sp. sagte mir kürtzlich daß er in diesem Winter auf dem Champ de bataille sein würde, und er seine Opern: Cortez, Nurmahal, Olimpia, Alcidor, Agnes von Hohenstaufen aufführen wird, wenn seine Schülerin Mlle Stephan nicht heirathet, wenn eine zweite Schülerin7 von ihm sich bis dahin herangebildet hat, wenn die Sängerin aus München (er nannte sie nicht)8 seine Vorschläge annimmt; wenn &c&c. – Mann9 kann aber noch10 ohne Bedenken hinzufügen, wenn der König so viel Geld geben wird, als dazu erforderlich ist diese Projecte auszuführen.
Unsere Oper gleicht jetzt einer schwindsüchtigen Person, die sich am wohlsten fühlt, wenn sie am schwächsten ist, u sich mit Hoffnungen tröstet, um sich den bevorstehenden Untergang zu verhehlen.
In der Hoffnung daß Sie vollkommen wohl sind, und mit dem Wunsche daß ich Ihres ferneren Wohlwollen mich erfreuen darf verbleibe ich mit der ausgezeichnetesten Hochachtung und wahrer Liebe

Ihr
ergebenster
Hub. Ries

P.S.
So eben besinne ich mich, daß das Porto der Musikalien aus Leipzig 57 Silbgr. beträgt. Ihrem Vorschlage gemäß ziehe ich dasselbe (indem ich es der besseren Berechnung in 2 Rth verwandele) ab, und es11 verbleiben demnach 66 Rth in Cassenanweisung



Dieser Brief ist die Antwort auf Spohr an Ries, 15.09.1835. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Ries, 24.04.1840.

[1] Vermutlich eher das 1834 erschienene op. 84.1 als das ältere op. 74.3.

[2] Vgl. „[Am 16. November]“, in: Allgemeiner musikalischer Anzeiger 7 (1835), S. 202.

[3] Vgl. „[Herr Taubert in Berlin]“, in: Neue Zeitschrift für Musik 3 (1835), S. 120.

[4] Hier gestrichen: „sich“. – Neben Ries und Carl Möser (vgl. Ries an Spohr, 19.06.1835) veranstaltete mittlerweile auch August Zimmermann Quartett-Soiréen in Berlin (vgl. [Ludwig Rellstab?], „Musik-Chronik“, in: Berlin. Eine Wochenschrift (1835), S. 755f., hier S. 755.

[5] Ausdruck in Klammern über der Zeile eingefügt.

[6] „neuerer Zeit“ über der Zeile eingefügt.

[7] Noch nicht ermittelt.

[8] Noch nicht ermittelt.

[9] Sic!

[10] „noch“ über der Zeile eingefügt.

[11] „es“ über der Zeile eingefügt.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (14.11.2024).