Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287[Thomae:2

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Meine Adresse ist jetzt: Fr. Thomae Senior zu Cleve (ohne allen Titel)

Cleve den 2 Juni 1835

Mein hochverehrtester, werthester Freund!

Mit den herzlichsten, aber widerstreitendsten Empfindungen empfing ich Deinen lieben Brief vom 21 März letzthin mit der Einlage1 für H. Grünberg; ich freute mich ungemein und innig, von Dir, geliebter und verehrtester Freund, ein so lange ersehntes Schreiben zu erhalten, welches mir den Beweist trägt, daß Du mir noch immer Deine unschätzbare, mich so sehr ehrende Freundschaft bewahrt hast, wofür ich Dir herzlich danke. – Dann aber war der übrige Inhalt, das Hinscheiden Deiner so vortrefflichen, von uns Allen, wie von Jedem, der Sie gekannt, so hoch geehrten, vom Himmel mit so schönen Gaben geschmückten Gattin2 – obschon wir schon vorher davon unterrichtet waren – so betrübend für uns und erregte so manche Erinnerungen, wehmüthige Empfindungen und innige Betrübniß aufs Neue, als hätten wir selbst ein theures Haupt der Unsrigen verloren, denn sicherlich war die Verblichene von Niemandem höher geehrt und geschätzt als von uns, die wir das Glück genossen haben, die Verklärte zu kennen und, was damit auch ausgesprochen ist, ihren hohen Werth zu würdigen! Als Mann von so festem Sinn wirst Du das Dir auferlegte Geschick zu tragen wissen und wirst dich in das Unvermeidliche schicken, – erwarte Trost von der, Alles leid(???) wenden(???), Zeit und die schöne Hoffnung des dereinstigen Wiedersehens halte Dich aufrecht und verscheuche die Stunden des Trübsinns!
Leicht sei der herrlichen Frau die Erde die sie jetzt deckt, – der schöne Lohn ihres hiesigen reichen Wirkens und Schaffens, ihres so sanften, nur dem Guten und Hohen zuwandten Lebens, wartet ihrer dort, jenseits des Grabes!!
Wie innig freuen wir uns, daß wir ein wohlgetroffenes Bild der Entschlafenen besitzen, wovon wir jetzt den Werth doppelt erkennen! – –
H. Grünberg, den ich nach Empfang Deines lieben Briefes täglich erwartete, – weshalb ich denn auch die Antwort immer aufschob, – ist in der Mitte des vorigen Monats hier angekommen, in einem bedauernswerthen Zustande, ohne Geld, Flöte, Musik und Kleider! es wurde hier Alles aufgeboten, ihm letztere drei Gegenstände wieder zu verschaffen, da er solche in Düsseldorf u. Cöln versetzt oder Vorschuß darauf entnommen hatte, womit aber 8 Tage hingingen. Dann wurde ein Concert zu Stande gebracht und er dadurch, so wie durch den Erlös der hier abgesetzten Exemplare seiner Biographie3, was ihn von Schulden befreit, – übrig behalten konnte er jedoch wohl nicht, auch soll er seine Flöte wieder hier zurücklassen und darauf einen Vorschuß von 20 und einigen Thalern genommen haben; er ist mit dem Dampfschiff von hier nach Rotterdam gereiset um von dort weiter nach London zu gehen. Er soll hier mehrfach geäußert haben, sich, wenn es gar nicht mehr gienge, erschießen zu wollen, – u. zwei Tage nach seiner Abreise verbreitete sich hier wirklich das Gerücht, er habe sich zwischen Nymegen und Arnheim erschossen, jedoch weiß man bis jetzt nichts Bestimmtes darüber und hoffen wir dennoch, daß es nicht wahr sei!
H. Grünberg bat mich mehre Male dringend, Dich ja nicht wissen zu lassen, wie er hier angekommen u. es ihm ergangen sei, u wie er gespielt habe – er möchte um Alles nicht, daß Du es erführest, – also bleibe es auch unter uns, u. habe ich es Dir blos gemeldet um Deine Theilnahme für diesen armen, unglücklichen Menschen, wenn er davor noch wieder bedürfen u. solche in Anspruch genommen nehmen möchte, rege zu erhalten! –
Nun, mein theuerster Freund, muß ich Dir unsre herzlichste, innigste Bitte vortragen; Du schreibst, daß Du in der 2ten Hälfte des dieses Monats mit Deiner jüngsten Tochter4 und Deiner Schwägerin5 eine Rheinreise bis Holland zu machen beabsichtigst und aus dann vielleicht auf einige Stunden zu besuchen; auf’s Freudigste hat uns diese frohe Kunde ergriffen, in der Hoffnung daß Du die angekündigten Stunden in Wochen, wenn dies aber gar nicht kann, doch in Tage verwandeln werdest! Sei denn hiermit mit Deinen Reisegefährtinnen, auf’s Herzlichste und Dringlichste eingeladen uns mit Deinem Besuche zu beglücken und uns andermal durch die That zu beweisen, daß Du Dich unser wohl noch erinnern und Deinen Eingang in unser Haus nehmen wollest! O, hochverehrter Freund, mache uns doch diese große Freude, bleibe so lange, als nur einigermaßen möglich bei uns, Deinen innigen und unveränderlichen Freunden, und lebe dann in der Erinnerung noch einmal die für uns so herrlichen Tage, welche die einst mit Deiner trefflichen Gattin bei uns zubrachtest – wir werden Deine Zusage als ein wirkliches Glück, das uns wiederfährt, aufnehmen und erkennen, das uns durch Deinen gefeierten Besuch zu Theil wird! Lasse uns recht, recht bald die Gewißheit erlangen, daß wir nicht vergebens gebeten haben und erfreue uns je eher je lieber mit dieser frohen Botschaft. Was Freundes Macht u. guter Wille nur irgend vermag, soll u wird jubelnd aufgeboten werden, Dir und den Deinigen den Aufenthalt bei uns und in unsrer naturschönen Gegend so angenehm als nur möglich zu machen, und könnten wir dann ja zusammen die Reise nach Holland, wenn Du solche noch beabsichtigest, machen. Noch einmal, bester Freund, beglücke uns doch bald mit Deinem freundlichen Zusagen!
Daß mein ältester Sohn Fritz6 mit einer Kaufmannstochter aus Bielefeld (Auguste König) im vorigen Sommer verheiratet ist, weiß Du, da sie Dich damals besucht haben. ich habe ihm mein Notariats-Amt abgetreten u er ist so glücklich gewesen an meiner Stelle als Notar zu Cleve ernannt zu werden, – es geht ihm gut u er hat viel zu thun. – Mein 2. Sohn Edmund studirt seit 3 Jahren Medicin u ist jetzt zu Bonn. Meine älteste Tochter Mina ist seit 3 Jahren verheirathet u wohnt zu Hattem bei Zwoll im Holländischen; ihr Mann ist bei der dortigen Privat-Schulanstalt als Lehrer angestellt – mündlich mehr hierüber – es geht ihr Gottlob gut u sie findet sich ganz in ihrer Lage; jetzt ist mein 3. Sohn Louis auch dort unter ihrer Aufsicht; unsere 2. Tochter Charlotte ist seit vorigem Herbst in Bielefeld bei König’s, wo sie 1 Jahr bleiben soll, wogegen wir die jüngste Tochter von König’s eben so bei uns jetzt haben. –
Ich bin gespannt darauf etwas von Deinen Kindern zu hören, wo sie sind u wie es ihnen geht. Wir freuen uns, ungemein Deine jüngste Therese zu sehen!
Cleve hat sich seit Deinem Hierseyn verbessert u verschönert, obschon wir seit etwa 15 Jahren sowohl OberLandesGericht als Regierung verloren haben. Ersteres kam nach Hamm u Letztere wurde ganz aufgelöst. Es wohnen jetzt viele Holländer hier u es kommen deren noch immer mehr – die reizenden Umgebungen Cleve’s tragen sehr viel dazu bei.
Übermorgen reise ich zum diesjährigen Musikfeste in Cöln – Mendelssohn aus DDorf wird dirigiren, das Oratorium Salomon von Händel wird am ersten Tage nach der Original-Partitur (ohne weitere Zusätze an Instrumenten) mit Orgelbegleitung gegeben. Nous verrons!7
Lebe wohl, bester Freund, meien Frau trägt mir die herzlichsten Empfehlungen auf u wir beide bitten darum bei den lieben Deinigen. Erfreue uns doch ja recht bald mit einer vorzügl. zusagenden Antwort. Unveränderlich bin u bleibe ich Dein treuer Freund Fr. Thomae Senior



Dieser Brief ist die Antwort auf den derzeit verschollenen Brief Spohr an Thomae, 21.03.1835. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Thomae an Spohr, 20.08.1835.

[1] Dieser Brief ist derzeit verschollen.

[2] Dorette Spohr starb am 20.11.1834.

[3] G[ottlieb] Grünberg, Leben und Reisen des erblindeten Flötenspielers G. Grünberg. Behufs Sicherung seiner und der Seinigen bürgerlichen Existenz, Hannover 1834.

[4] Therese Spohr.

[5] Wilhelmine Scheidler.

[6] Friedrich Heinrich Ludwig Thomae.

[7] „Nous verrons“ (frz) = „Wir werden sehen“.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (08.12.2020).