Autograf: ehemals Sammlung Fritz Donebauer
Druck 1: Des Heilands letzte Stunden. Oratorium von L. Spohr, gedichtet von Friedrich Rochlitz. Briefe von Mendelssohn, Rochlitz und Spohr, hrsg. v. H[ans] M[ichael] Schletterer, Zürich 1885 [Separatdruck aus der Schweizerischen Musikzeitung (1885)], S. 40-43 [Permalink] [Direkt zum Digitalisat]
Druck 2: Ernst Rychnovsky, „Ludwig Spohr und Friedrich Rochlitz. Ihre Beziehungen nach ungedruckten Briefen”, in: Sammelbände der Internationalen Musikgesellschaft 5 (1903/04), S. 253-313, hier S. 291ff.

Leipzig, den 6ten Febr. 1835.
(Freytags!)

Geehrter Herr und Freund!

Sie allein sind Schuld – Sie einzig und allein – daß ich, seit sieben Wochen von Fußgicht geplagter, wenn auch übrigens gesunder und heiterer Mann, seit gestern Abends 11 Uhr bis jetzt, gegen 2 Uhr, mich auf meinem Lager vergebens nach einer Stunde Schlaf umgesehen, und nun, erstanden und gegen Erkältung gekleidet, den Rest der Nacht schreibend hinzubringen mir vorgenommen habe. Und zwar zunächst schreibend an Sie; denn wie gesagt, Sie allein sind Schuld an alle dem. Sie haben nämlich durch die zweyte, ganz von mir im wöchentlichen Conzert veranstaltete Ausführung Ihrer vierten Symphonie mich dermaßen begeistert und entzückt, daß noch in diesem Augenblicke – in welchem ich doch, um schreiben zu können, meine Aufmerksamkeit theilen muß – alle die Scenen und Lebensereignisse, die heitern und die traurigen, die scherzhaft neckenden und die feyerlich erhebenden etc., daß alle diese vor meinen Augen, wechselnd, wie bey Ihnen und im Leben, vorübergehen, daß jede die sie bezeichnenden Töne – einzelne oder ganze lange Perioden mit ihren Melodien, Harmonien, den eingenthümlich benutzten Instrumenten u. dgl. – mit sich bringt, und so alles und Jedes wieder un immer wieder denselben Eindruck macht und zurückläßt, wie vor drey Wochen bey der, nach mehrmaligen, mit Achtung, Liebe und Fleiß durchgeführten Proben, schon trefflichen Ausführung. Denselben Eindruck, sag’ ich? Nun ja: denselben; aber diesmal noch weit deutlicher, lebendiger, vertiefter. Ich kam nämlich schon damals – wie ich das überhaupt bey großen Werken zu halten pflege, und immer gehalten habe: ich kam schon damals keineswegs unvorbereitet. Seitdem ich nur das erste Wort davon vernommen, Sie hätten eine große malerische Symphonie geschrieben; Sie – sie Ihnen längst bekannt – als Componist und Virtuos mir einer der höchsten und liebsten Meister unter Allen, die mir als Mitgenossen der Zeit meines langen Leben vorgekommen: Sie hätten eben eine solche Symphonie geschrieben und gäben sie bey Haslinger heraus: seitdem hatte dieser von mir den Auftrag mir für mein gutes Geld direct über Post eines der ersten Exemplare zuzusenden. Ich schwieg davon gegen Sie; denn – ich will es ehrlich gestehen: ich hegte Besorgnisse, mein trefflicher Meister möchte doch wohl auf diesem, selten (und mit Recht selten) betretenen, schlüpfrigen, auch sonst gefährlichen Pfade, hin und wieder Fehltritte gethan haben, und wollte mir durch jenes frühere Schweigen das Recht vorbehalten, auch in solchem Falle schweigen zu dürfen. – Haslinger erfüllte meinen Auftrag pünktlich: ich erhielt in Leipzig das allererste Exemplar. Noch in derselben Stunde, wo es angekommen, machte ich mich an die elegant gestochene Partitur; las, erst neugierig, von Anfang bis zu Ende; dann, wißbegierig und freudig erregt; nun, nach Beruhigung durch mehrere Stunden, langsam, sehr langsam in jedes Einzelne nun eingehend und es mir verdeutlichend auchnach seinen historischen Beziehungen (so zu sagen!) oder, wollen Sie es so nennen: ich studierte das Werk, und war davon in drey Tagen so weit gebracht, daß ich mich sattelfest in ihm fühlte, und von ihm so eingenommen war, mein schönes Exemplar (ein anderes war noch nicht in Leipzig vorhanden) den nicht immer sauberen Händen der Notencopisten hinzugeben, damit es nur sobald als irgend möglich zu Gehör käme. Daß dies geschahe; daß es mit bestem Bemühen, Glück und Erfolg zu meiner großen Freude geschahe: das habe ich schon gemeldet.1
Hier höre ich Sie mich – und mit Grund – durch die Frage unterbrechen: warum ich damals Ihnen nicht schrieb? Ich habe aber auch Grund, mit aller Aufrichtigkeit zu antworten: Es fiel dies eben in die Tage, wo ich, und wahrlich nicht ohne Ursache, mit Ihnen über die bewußten Verhältnise zu meinem Oratorium unzufrieden war. Ich dachte: wer meinem Urtheil über das2 Wichtigere nicht trauet, der wird – und der soll es auch nicht über das, wenn auch noch so Vorzügliche, doch immer und ewig Minderwichtige. Und wer dich nach Deinem gesammten Innern so wenig kennt, daß er sogar in dem Fache, das euch Beyden so nahe liegt, Deine Ansichten und Urtheile gering achtet: was soll der überhaupt mit Deinen Ansichten und Urtheilen! etc.
Ich mußte hier eine Pause machen: ich fühlte mich geistig und körperlich sehr angegriffen, und in meinen Füßen fing die Gicht an, allzuschmerzhaft zu toben. Jetzt (es ist vier Uhr) fahre ich ruhiger fort, aber, um die Pein nicht wieder zu reizen, blos in meinem Geschichtchen von dem, wie es mir mit Ihrer Symphonie ergangen.
Ich wollte eine Wiederholung der Aufführung sogleich für den nächsten Concert-Abend veranstalten: Das war aber der Neujahrs-Abend, wo das auf den Tag Bezügliche zu viel Zeit hinnahm, zu jener Musik nicht paßte, und die Achtsamkeit der Mehrzahl Zuhörender von dieser abgelenkt hätte. Für die zwey folgenden Abende traten Störungen ein; besonders eine bedeutende Unpäßlichkeit des Hrn. Mathäi, ohne den dergleichen Werke bey uns jetzt nicht befriedigend ausgeführt werden können. Endlich war Alles beseitigt: ich konnte die Wiederholung, und zuvor wieder eine höchtgenaue Probe, veranstalten, aber ich sollte sie auf dringendes Verlangen des Arztes durchaus nicht hören; zumal da die Witterung höchstungünstig und mit Sicherheit zu erwarten war, der Saal werde sehr voll und bey der lauen Temperatur von draußen sehr heiß werden. Da saß ich nun gestern, zwar geduldig, denn Geduld hat das Leben mich endlich wohl gelehrt: aber, als die Stunde nahte, ziemlich betrübt. Nun – sagte ich mir: wenn nur Andere die Freude haben. Das hielt auch wirklich wider, bis gegen sechs Uhr, wo, wie Sie wissen, unser Concert anfängt. Da überlief michs höchstfatal und ich beschloß die Symphonie zu hören, möchte es kosten , was es wolle. Sie sollte nämlich im zweyten Theile gegeben werden und ihn ganz ausfüllen. So packte ich mich in Wolle von oben bis unten; lies mir eine Senfte holen, die Treppen hier hinunter, dort hinauf, mich mehr tragen als führen; gelangte so, zwar unter argem Schmerz, doch sonst glücklich und zum Erstaunen der Mit-Vorsteher in unsre Loge, auf meinen gewohnten Sitz in den Gluthofen; vergaß, als nur erst das Übrige vollends vorbey und Ihr Werk im Beginn war, Alles über ihm; hörte nun genoß, wie ich oben schon angedeutet habe; kam in derselben Weise wie ich hingekommen, auch zurück: aber innerlich sehr froh – und sitze nun da und schreibe.
Geehrter Herr und Freund! Sie sind wohl ohne alle Zusicherung von meiner Seite überzeugt, daß ich vieles hinzuzusetzen hätte. Ich möchte auch Vieles hinzusetzen, und würde es, ohne zu fragen, wie es mir bekommen möchte: aber indem ich die Sache ruhig überdenke, zeigt sichs: Sie werden es schon selber in Ihrem Innern finden; oder geschähe das nicht, so würde vergebens seyn, was ich hinzsetzte. Ich schließe daher einfach, aufrichtig, von Herzensgrunde theilnehmend: ich wünsche Ihnen Glück zu jener Ihrer Arbeit, aus Ihr vollkommen deutlich abnehmend, daß Sie eben jetzt auf dem Höhepunkte Ihres ganzen Kunstlebens stehen; ich danke Ihnen für die Freude, die Sie mir auch durch dies Werk bereitet haben und (hoffentlich) noch öfters bereiten werden; denn so lange ich noch lebe und für unser Concert gehört werde, soll kein Jahr vergehen, wo ich es nicht zu Gehör brächte; und bitte Sie um Ihrer selbst, Ihres Nachruhms und der Würde Ihrer Kunst willen, Ihre jetzige Zeit bestens zu Rath und That zu halten, indem sie, einmal dahin, sich eben so wenig ersetzen, als zurückführen läßt; und begrüße Sie, scheidend, mit einem ehrlichen Handschlag.

Rochlitz.

Autor(en): Rochlitz, Friedrich
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Matthaei, Heinrich August
Erwähnte Kompositionen: Spohr, Louis : Des Heilands letzte Stunden
Spohr, Louis : Die Weihe der Töne
Erwähnte Orte: Leipzig
Erwähnte Institutionen: Gewandhaus <Leipzig>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1835020636

Spohr



Dieser Brief folgt in dieser Korrespondenz auf Rochlitz an Spohr, 29.01.1835. Spohr beantwortete diesen Brief am 11.02.1835.
Das Autograf dieses Briefs wäre von seiner Stellung in der Korrespondenz her zu erwarten in: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohnarchiv (D-B), Sign. Mus.ep. Spohr-Correspondenz 2,160; in dem betreffenden Band ist diese Faszikel-Signatur jedoch nicht besetzt. Vermutlich wurde dieser Brief bereits entnommen, bevor der Band von der Bibliothek erworben wurde. Abgesehen von einem offensichtlichen Setzfehler, folgt die Transkription hier Druck 2.

[1] Zu dieser Aufführung und die im Folgendenerwähnte Wiederholung der Sinfonie vgl. „Leipzig, am 19. März”, in: Allgemeine musikalische Zeitung 37 (1835), Sp. 235-238, 266-269 und 301-304, hier Sp. 237.

[2] Hier in Druck 2 statt „über das”: „düber as”.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (16.09.2016).