Autograf: Bodleian Library Oxford (GB-Ob), Sign. MS Margaret Deneke Mendelssohn c. 42, f. 16-17
Druck 1: Des Heilands letzte Stunden. Oratorium von L. Spohr, gedichtet von Friedrich Rochlitz. Briefe von Mendelssohn, Rochlitz und Spohr, hrsg. v. H[ans] M[ichael] Schletterer, Zürich 1885 [Separatdruck aus der Schweizerischen Musikzeitung (1885)], S. 139f. [Permalink] [Direkt zum Digitalisat]
Druck 2: John Michael Cooper und R. Larry Todd, „'With True Esteem and Friendship'. The Correspondence of Felix Mendelssohn Bartholdy and Louis Spohr“, in: Journal of Musicological Research 29 (2010), S. 171-259, hier S. 220-223; englische Übersetzung S. 178-181
Druck 3: Felix Mendelssohn Bartholdy, Sämtliche Briefe, Bd. 4, hrsg. v. Lucian Schiewietz und Sebastian Schmideler, Kassel u.a. 2011, S. 158-161
[Beleg: Autographen-Sammlung enthaltend Musiker-Briefe und Musik-Manuskripte aus dem Nachlasse des berühmten Komponisten Louis Spohr (1784-1859) nebst Beiträgen aller Art (Fürsten, Staatsmänner, Dichter, Gelehrte, Künstler, etc.) aus dem Besitz eines bekannten Berliner Sammlers. Versteigerung zu Berlin Montag, den 15. und Dienstag, den 16. Oktober 1894 (= Katalog Liepmannssohn), Berlin 1894, S. 57]

Düsseldorf den 5ten Februar 1835.

Hochgeehrter Herr Kapellmeister!

So eben erhielt ich Ihr gütiges Schreiben vom 3ten und da Sie meine Antwort und die Abschrift eines früheren Briefes des Hofrath Rochlitz abwarten wollen, ehe Sie demselben wieder schreiben, so muß ich eilen Ihnen dieselben zuzuschicken, damit diese unangenehme Sache sobald als moglich zu einem Ziele komme. Wie leid thut es mir zu sehen, wie Rochlitz die ganze Angelegenheit nimmt; schon daß er mir früher schrieb, daß er dies sein bestes Werk nun
mit Aufwand aller seiner Kräfte vollendet habe, und die ganze Erregbarkeit, die er dabei zeigte, konnte ich nicht recht begreifen, weil es mir durchaus wie Ihnen nur als eine Umarbeitung oder Verbesserung der Diction des früheren Werkes, gegen das er protestiren will, erscheint. Auch ist mir es nicht lieb, daß ich die Stelle copiren soll, auf die er sich bezieht, denn ich muß Ihnen gestehen, daß sie mir gerade bei der Art, wie er dies Werk ansieht, und gerade im ersten
Briefe, in welchem sie stand, durchaus nicht gefallen hat. Da er indeß selbst verlangt, daß ich sie Ihnen mittheile, so schreibe ich sie hier ab, es ist der Schluß des Briefs, den ich mit der ersten Übersendung des Manuscripts erhielt, der Anfang enthält nur was ich oben gesagt, wie er das Werk in seinen besten Stunden und zu seiner besten Dichtung vollendet habe, und daß ich es gleicherweise mit Aufwand aller Kräfte nun in Musik setzen mochte. Dann fährt er fort „hier könnte ich schließen, aber lassen Sie mich alles äußern, mir vorschwebt, sogar von der Zukunft des Werks. Ich bin der festen Überzeugung, wir beide arbeiten hier keineswegs blos für (wenn auch edeln) Genuß Anderer: wir arbeiten auch für Veredlung des Innern unsrer Mitbrüder. Wer
dergleichen thut, der darf nicht nur – er soll auch alle rechtliche und angemeßne Hülfsmittel ergreifen, wodurch sein Werk sobald und so weit verbreitet werde, als thunlich, und daß dies so sicher geschehe, als möglich. Dazu dienet nun jetzt (wir können die Welt nicht ändern) vor Allem besonders bei Werken dieser Art daß, vor öffentlicher Bekanntmachung, Größe der Erde – aber nur wahrhaft geehrte und geliebte – dafür interessirt werden. Ich thue darum den Vorschlag: Sobald Sie das Werk vollendet haben schreiben wir gemeinschafllich Ihrem Könige (vielleicht auch dem Kronprinzen und dessen Gemahlinn), der Großfürstinn in Weimar, durch diese dem Kaiser Nikolaus und seiner Gemahlinn, und etwa unserm geistvollen, kunstliebenden Prinzen Johann. Wir empfehlen denselben unser Werk einfach und in geziemender Haltung; Gedicht und Clavierauszug in Abschrift wird beigelegt, und wir fragen an, ob die Partitur folgen durfe. Für Gelegenheit an die Preußischen Herrschaften zu gelangen wird es Ihnen nicht fehlen. Selbst Spontini, wenn er nichts Persönliches gegen Sie hat, wird erinnern, und das ist bei Großen der Erde, auch den Besten, meist nöthig. Ich weiß, daß Spontini mich achtet und gern mir gefällig sein möchte. Was die übrigen genannten Herrschaften betrifft, so glaube ich selbst sicher einstehen zu können. Wenn Sie auf Verschwiegenheit sicher rechnen können (das ist hier nothwendig, denn ein erlauschtes oder in die Welt hinaus gedrucktes Wort würfe Alles um) so ziehen Sie die Besonnensten,
Umsichtigsten und Erfahrensten Ihrer Familie zu Rathe und geben Sie mir aufrichtige ganz rückhaltlose Antwort. – Auf Gewinn gehe ich bei allem jenem so wenig aus, als Sie es thun werden; es ist das für uns beide nicht einmal Verdienst und wir können auch darum freier in die Welt hinaus blicken.“1
Dies ist der Schluß des Rochlitzischen Briefes, der mich gerade bei dem Gedanken an ein größeres Werk, und ein geistliches dazu, unangenehm berührt hat; denn wenn ich an solche Vorsichtsmaßregeln oder gar an die Großen der Erde denken soll, ehe ich nur noch eine Note von dem Werke da stehn habe, so wird mir gleich sehr kühl zu Muthe. Dies mag freilich anders sein,
wenn die Partitur fertig da liegt, und somit ist2 es Ihnen vielleicht lieb3, Rochlitzens Ansicht hierüber zu kennen; mir aber, der ich das in dem Briefe las, welcher das Manuscript zu mir begleitete, kam das nicht musikalisch vor, und daß er Ihren freundlichen Antrag4 nun für den Kaiser Nikolaus ausschlägt, gefällt mir auch nicht recht. Doch scheint mir, daß bei alle dem, wie bei der ganzen Angelegenheit, wohl sein höheres Alter und der Werth den er deshalb auf diese Arbeit legt, in Anschlag kommen müsse, und deshalb erlaube ich mir eine Bitte an Sie (nehmen Sie sie mir aber nicht übel) Könnten Sie es nicht über sich gewinnen, (ehe Sie Rochlitz definitiv schreiben, daß Sie beim alten Text bleiben wollten) ihm noch einmal zu sagen, daß sie seinen neuen Text durchaus annehmen würden, hingegen müsse er die Musik Ihnen allein überlassen? Sie schreiben selbst, daß Sie ihm zu Liebe gern ändern würden, nur verderben könnten und wollten Sie Ihr Werk nicht; nun scheint mir daß fast überall (wenn er die Stelle beim Erdbeben ändert) ohne bedeutende Opfer von Ihrer Seite seine neuen Worte5 gebraucht werden könnten (wenigstens an den meisten Stellen, da das Maaß sich gleich geblieben ist) und wenn Sie auf diese Weise seine Bearbeitung ganz und gar annahmen, so scheint mir es unmöglich, daß er seinerseits auf seiner Ansicht von der Musik z.B. den vierstimmigen Worten des Christus beharrte.6 Und7 dies glaube ich um so eher, wenn Sie ihm diesen Vorschlag machten weil8 er sich dann sagen müßte, daß nun eigentlich aller Vortheil auf seiner Seite wäre und daß er nur seine musikalischen Ansichten darüber den Ihrigen unterordnen müsse, was ja ohnehin bei jedem anerkannten Meister, der es9 componiren könnte, derselbe Fall sein würde. Vielleicht ließe sichs so machen, daß dann die weitre Discussion über die Worte des Christus ganz umgangen wurde, da er so außerordentlich susceptible in diesem Punct scheint,10 bei kälterem Blut muß er11 selbst sagen,12 wie Sie, daß13 darüber dem Componisten die Entscheidung allein zusteht, und dies wird er auch gewiß, da Sie aus obiger Stelle sehen, wie sehr ihm auch der äußerliche Erfolg am Herzen liegt, und da er es deshalb gewiß später als14 ein Glück für sein Werk betrachten wird, wenn Sie es in der neuen Umarbeitung durch Ihre Musik einführen. Entschuldigen Sie daß ich mir die Freiheit nehme, Ihnen diesen15 Vorschlag zu machen aber ich bin überzeugt, daß ein Brief des Inhalts, wie Sie ihn an Rochlitz schreiben wollten, wenn er ihn auch provocirt hat, ihn bald doch sehr schmerzen und betrüben würde; und bei seinem hohen Alter, seinen vielfachen Verdiensten, und der großen Liebe mit der er diese Arbeit betrachtet würde dies mir und gewiß eigentlich auch Ihnen leid sein.
Was die Worte des Christus betrifft, so bin16 ich darin so ganz Ihrer Meinung und finde das17, was Sie im zweiten Briefe18 an Rochlitz darüber sagen, so treffend, daß ich nicht begreife, wie er es nicht einsah; denn wenn er es auch ansehn mag wie er will, so bleibt die Schwierigkeit bei 60 oder 100 Leuten, die die Worte aussprechen dieselbe, oder wird größer; aber eigentlich ist sie gar nicht da.
Denn ich denke was ein rechter Musiker mit Andacht und von Herzen hinschreibt das wird wohl keine Profanation sein, ob es nun Solo oder Chor oder was sonst sein mag.
Entschuldigen Sie diesen langen Brief mit dem ich Sie19 belästige. Ich wollte Ihnen alles das gern sagen, weil ich Rochlitzs20 Stellung gegen Sie, nach Ihren Briefen, so sehr zu seinem Nachtheile und so wenig hübsch finde, daß ich gar zu sehr wünschte, er würde dahin gebracht dies selbst einzusehen – und: Ihnen nicht bei Ihrem neuen Werk durch seine Protestation, wenn auch nur für einen Augenblick, Ihre Freude21 am Gelingen zu trüben. Es thut mir leid jemand, den ich sonst achten mußte, so gänzlich fehlgreifen zu sehen, u. weil Ihnen gewiß eben so dabei zu Muth ist hoffe ich daß Sie meine Bitte und diesen Brief freundlich aufnehmen.22
Ich bin mit herzlicher Verehrung

Ihr ergebner
Felix Mendelssohn Bartholdy.

Autor(en): Mendelssohn Bartholdy, Felix
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Rochlitz, Friedrich
Spontini, Gaspare
Erwähnte Kompositionen: Spohr, Louis : Des Heilands letzte Stunden
Erwähnte Orte:
Erwähnte Institutionen:
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1835020541

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf den derzeit verschollenen Brief Spohr an Mendelssohn, 03.02.1835. Spohrs Antwortbrief ist derzeit ebenfalls verschollen.

[1] Zu Abweichungen zwischen Rochlitz’ Brief vom 08.11.1834 und Mendelssohns Zitat vgl. Druck 3, Kommentar S. 540.

[2] „ist“ über gestrichenem „wird“ eingefügt.

[3] Hier gestrichen: „seyn“.

[4] In seinem Brief vom 10.01.1835 bot Spohr an, die Komposition des Oratoriums Des Heilands letzte Stunden Rochlitz zu widmen.

[5] Hier ein Wort gestrichen.

[6] Vgl. ebd.

[7] „Und“ über einem gestrichenem Wort eingefügt.

[8] „weil“ über gestrichenem „und“ eingefügt.

[9] Hier ein Wort gestrichen.

[10] Hier gestrichen: „denn“.

[11] Hier gestrichen: „sage“.

[12] Hier gestrichen: „da[ß]“.

[13] Hier gestrichen: „er“.

[14] Hier ein längeres Wort gestrichen.

[15] Hier ein Wort gestrichen („einfachen“?).

[16] „bin“ über gestrichenem „kann“ eingefügt.

[17] „das“ über der Zeile eingefügt.

[18] Vgl. Spohr an Rochlitz, 24.01.1835.

[19] „Sie“ über der Zeile eingefügt.

[20] Hier gestrichen: „gege“.

[21] Hier gestrichen: „zerstören“.

[22] Hier mehrere Wörter gestrichen.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (19.06.2020).