Autograf: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohnarchiv (D-B), Sign. 55 Nachl. 76,249
Druck: Edward Speyer, Wilhelm Speyer der Liederkomponist 1790-1878. Sein Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen dargestellt von seinem jüngsten Sohne, München 1925, S. 144f. (teilweise)

Frankfurt 23 Januar 1835.

Theurer Freund!

Es ist mir nicht möglich gewesen in der ersten Zeit, als Sie der harte Schlag getroffen, an Sie zu schreiben. Was könnte ich auch sagen? In einem solchen Fall ist Trost Heuchelei und Versicherung der Teilnahme überflüßig. Leider habe ich aus eigener schmerzlicher Erfahrung die Überzeugung gewonnen, daß Seelenwunden still getragen werden müssen, und daß alles äußere Vermitteln, käme es auch von nahstehenden oder befreundeten Menschen, in der ersten Zeit der geistigen Betäubung unbequem wo nicht widerwärtig erscheint. Die wahre Vermittlerin ist die Zeit u. unsere sinnliche Natur kommt uns dabei zu Statten. – Der Himmel weiß es aber, daß ich und die Meinigen den furchbaren unersetzlichen Verlust der Sie betroffen hat, in seiner ganzen Größe zu würdigen wissen; denn seit langen Jahren kannten wier sie, kannten demnach das schöne innige Verhältniß, das nun für diese Welt zerissen ist. Tausend kleine Rückerinnerungen aus früheren Zeiten tauchen vor meinem Gedächtniß auf u. lassen mich die ganze Größe des Verlustes ermessen!
Ich habe die Trauerbotschaft von Schmetzer auf die ungeschickteste Art auf der Straße erfahren, in dem Moment als ich mit dem gerade hier anwesenden Molique in eine Quartettgesellschaft gieng. Wir spielten 2 Quartetten u. 1 Quintett von Ihnen!
Seit dem Tode meines Vaters habe ich keine so wehmutsvolle Augenblicke gehabt, u. es war auch gerade um die Zeit wo sich jährlich die Erinnerung an die schreckenvollste Catastrophe meines Lebens erneuert! – Jetzt verlange ich aber mit großer Sehnsucht nach Ihren Nachrichten. Wenn es Ihnen möglich ist, so schreiben Sie mir recht bald einige Zeilen über Ihre Zustände, geistige und körperliche, u. wenn Sie mir beruhigendes mittheilen können, so sei Gott dafür gepriesen. Ich denke die Kunst wird sich hier segensreich erweisen u. manches ins Gleichgewicht bringen.
Hier ist Norma von Bellini, die Normal Oper aller europäischen Residenzen gegeben. Schade daß das Operntheater in Darmstadt vergangen. Denn für Darmstadt wäre das Werk wie gemacht. Solch eine vornehmthuende Langweiligkeit hat die Welt noch nicht gesehen. – Dagegen ist eine kleine Oper von Rosenhain: „der Besuch im Irrenhaus” mehrmals mit Beifall gegeben worden. Die Musik ist recht brav u. der junge Componist zeigt ein bedeutendes dramatisches Element. Wenn Sie auf die Operette reflectiren, so sagen Sie mir davon.
Meine Frau u. Kinder empfehlen sich Ihrem Andenken. Es ahndet mir, daß wir uns dieses Jahr sehen werden.

Mit unabänderlicher Liebe und Freundschaft,
Ihr WmSy.

Autor(en): Speyer, Wilhelm
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Molique, Bernhard
Schmezer, Friedrich
Speyer, Georg
Spohr, Dorette
Erwähnte Kompositionen: Bellini, Vincenzo : Norma
Rosenhain, Jacob : Der Besuch im Irrenhaus
Erwähnte Orte: Darmstadt
Frankfurt am Main
Erwähnte Institutionen: Hoftheater <Darmstadt>
Stadttheater <Frankfurt am Main>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1835012332

https://bit.ly/

Spohr



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Speyer, 06.07.1834. Spohr beantwortete diesen Brief am 30.01.1835.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (07.03.2016).

Frankfurt, 23. Januar 1835.

Teurer Freund!

Es ist mir nicht möglich gewesen in der ersten Zeit, als Sie der harte Schlag getroffen, an Sie zu schreiben. Was könnte ich auch sagen? In einem solchen Fall ist Trost Heuchelei und Versicherung der Teilnahme überflüssig. Leider habe ich aus eigener schmerzlicher Erfahrung die Überzeugung gewonnen, daß Seelenwunden still getragen werden müssen und daß alles äußere Vermitteln, käme es auch von nahstehenden oder befreundeten Menschen, in der ersten Zeit der geistigen Betäubung unbequem wo nicht widerwärtig erscheint. Die wahre Vermittlerin ist die Zeit und unsere sinnliche Natur kommt uns dabei zustatten. Der Himmel weiß es aber, daß ich und die Meinigen den furchbaren unersetzlichen Verlust der Sie betroffen hat, in seiner ganzen Größe zu würdigen wissen; denn seit langen Jahren kannten wier sie, kannten demnach das schöne innige Verhältnis, das nun für diese Welt zerissen ist. Tausend kleine Rückerinnerungen aus früheren Zeiten tauchen vor meinem Gedächtnis auf und lassen mich die ganze Größe des Verlustes ermessen! Seit dem Tode meiner Eltern habe ich keine so wehmutsvolle Augenblicke gehabt, und es war auch gerade um die Zeit wo sich jährlich die Erinnerung an die schreckenvollste Katastrophe meines Lebens erneut! – Jetzt verlange ich aber mit großer Sehnsucht nach Ihren Nachrichten. Wenn es Ihnen möglich ist, so schreiben Sie mir recht bald einige Zeilen über Ihre Zustände, geistige und körperliche, und wenn Sie mir beruhigendes mitteilen können so sei Gott dafür gepriesen. Ich denke die Kunst wird sich hier segensreich erweisen und manches ins Gleichgewicht bringen ...

Mit unabänderlicher Liebe und Freundschaft,
Ihr Wm. Speyer.