Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287[Kleinwächter,L.:03

Prag den 6t August
1834.
 
Verehrtester Herr!
 
Endlich – nach langem Herbeiwünschen und Erwarten – wird mir so viel Musse zu Theil, als ein Brief, den das Gemüth erzeugt, der Zeit und der Stimmung wegen noethwendig erfordert. Wie gerne, wie sehr gerne, ich schon viel früher Ihr liebevolles Schreiben vom 2ten Merz d.J. beantwortet hätte, brauche ich wohl nicht erst zu versichern, und Sie werden für mein so langes Stillschweigen in den gleich folgenden die beste Entschuldigung finden. Prof. Schuster, - denselben den Sie vor einigen Jahren bei seiner Tochter der Frau von Hähnlein(???) in Cassel kennen lernten – der an unserer Universität das österreichische Civilrecht vortrug, forderte mich – da ihm meine Neigung zur Theorie bekannt1 war – auf, ihn in öftern durch seine Kränklichkeit herbeigeführten Verhinderungsfällen in seinem Lehramte zu suppliren. Mein vom hiesigen Studiendirectorate vor Mitte Januars ausfertigtes Decret als Supplent und die häufigen Unpäßlichkeiten des erwähnten Professors verpflichteten mich seit dieser Zeit an bis Ende Merz den größten Theil der Collegia an seiner statt zu halten. In der Nacht vom 19ten auf den 20ten Merz ward Prof. Schuster durch einen plötzlichen ohne vorhergehende eigentliche Krankheit erfolgten2 Schlagfluß diesem Leben entrißen, nachdem er noch am 19ten Merz Nachmittag sein gewohntes Examinatorium gehalten hatte. Von der Zeit an lag mir nun die ganze Besorgung dieser Lehrkanzel an der hiesigen Universität ob, und ich bin bis zur Wiederbesetzung dieses Lehrstuhles zum Supplirenden Profeßor des österreichischen Civilrechtes einweilig ernannt worden. Sie werden es begreiflich finden, daß diese meine Stellung, und der Eifer meinen Universität-Catheder den in denselben mit Recht gestellten Anforderungen entsprechend auszufüllen, alle meine Kräfte nothwendig in Anspruch nehmen mußten, und daß alle meine Zeit der so drängenden Berufsarbeit zu widmen war. Erst morgen ist mit Vertheilung der Studienzeugniße der heurige Collegien-Cursus geschloßen, und die begonnenen Herbstferien laßen mich wieder freier athmen. Ich zögere darum auch nicht länger, die ersten freien Stunden einer Pflicht zu geben, deren Erfüllung mir so ungemein angenehm ist, und von welcher nun das leidige Muß des Berufs mich plage zurückzufallen im Stande war. Von meinem eignen Musikalischen Treiben kann ich Ihnen so viel als Nichts bereichten, denn bei der überhäuften Beschäftigung war meine Ueberanstrengung in den so wenigen Erholungstunden fast gar nicht zu denken. Selbstexecution so wie Composition mußten – wenige unbedeutende Kleinigkeiten abgerechnet – ganz unterbleiben, und das Anhören guter Musik, war – und das nur, wenn es die Zeit erlaubte – der einzige musikalische Genuß, der mir heuer zu Theil ward. Mit schwerem Herzen mußte ich es sogar ablehnen, am Clavier die Direction einer musicalischen Privatunterhaltung zu übernehmen, wobei nebst einem: „Veni creator spiritus“ von Tomaschek, Ihre Psalmen und Ihre Hymne an die hl. Caecilie gegeben wurden. Mangelnde Zeit verstatteten es mir durchaus nicht, zu den doch so nöthigen Proben erscheinen zu können. Der letzten Probe, so wie der Aufführung dieser herrlichen, wie schönen Werke wohnte ich bei, und kann versichern, dasz die Dilettantenkräfte alles aufboten um diese Prachtcompositionen des Meisters würdig zu Gehör zu bringen. Aber selbst der angenehme Eindruck jener Kunstwerke liesz ein sehnsüchtiges Nachgefühl in mir zurück, welches wirklich nur derjenige empfinden kann, der erfahren, wie wehe es thut, der trocknen harten Pflicht willen der Kunst, zu welcher Neigung und Liebe das Gemüth hintreibt, auf lange Zeit entbehren zu müszen. Hoffentlich wird die Gegenwart und nächste Zukunft mir mehr freie Zeit gönnen, um wenigstens an Einigem die schwache Kraft wieder versuchen zu können! Unter die angenehmsten Genüße, die ich aber seit langer Zeit her empfunden gehörte jener, den mir im heurigen Frühjahr die Aufführung Ihrer Jessonda verursachte.3 Ich war dem Clavierauszuge nach schon ungemein gespannt auf den Erfolg der Gesamtwirkung, aber ich muß gestehen dasz die Wirklichkeit des drin waltenden echt künstlerischen Zaubers meine groszen Erwartungen noch weit übertraf. Ich würde es für unbescheiden halten, wenn ich ein Wort des Lobpreisens veröre über ein Werk deßen hohen Werth die ganze musikalische Welt bereits anerkannt hat, und deßen Unvergänglichkeit gegen die Launen des modernen Geschmackes die Zukunft anerkennen wird. Muß ich aber gleich in dieser Hinsicht schweigen, so werden Sie doch gewiß gerne ein Wort des Dankes annehmen von einem Gemüthe, das Ihnen und Ihrer Kunst so ganz unnennbar hingegeben ist. Ich läugne nicht, dasz während der Production jenes Werkes häufige Thränen des innigen Dankes gegen den großen Schöpfer so edlen Seelenvergenügens von meinen Wangen rollten, und lebhaft, unendlich lebhaft erinnerte ich mich jener seligen Tage in Marienbad. Keineswegs darf ich aber vergeßen, gegen Sie die Aufnahme dieser Oper beim Prager Publicum zu erwähnen. Ich erinnere mich nicht, dasz seit langer Zeit ein dramatisches Musikwerk ein wahrhaft freudigeres Publicum aufweisen konnte als es bei Ihrer Jessonda der Fall war. Das Blumenduett mußte bei jeder Production wiederholt werden, die meisten Piecen, namentlich die dem größern Publicum zugänglichern sehr beklatscht, und überhaupt die ganze Oper sehr beifällig, - ich möchte fast sagen – enthusiastisch aufgenommen. Leider fiel gerade die Zeit in welcher jenes Werk zur Production kam in die Endperiode der nun mehr abgetretenen Theaterdirection, und bei der erfolgten Aenderung des Personals und dem Drange sovieler dem neuen Director Stöger obliegenden Geschäfte kam sie bis itzt noch nicht wieder an die Reihe. Hoffentlich werden wir, wenn Stöger seinen eignen Vortheil nicht verkennt, dieselbe bald wieder auf der Bühne sehen; denn während der kurzen Zeit jener erwähnten Periode hat die erfolgte 5mailige Wiederholung jener Oper jedesmal ein sehr volles Haus und einen immer gleichbleibenden Beifall zum Erfolge gehabt. Auch von Seite der Production war alles geleistet, was von den damaligen Kräften zu erwarten war. Dem. Lutzer gab die Jessonda mit lobenswerthem Eifer, und wenn gleich – nicht eben zu ihrer sonderlichen Ehre – nicht zu verkennen war, dasz ihr unter dem eitlen Geklingel neu-italienischer und französischer Weisen aufgewachsenes Gemüth in den Tiefen nicht teutscher Klänge noch nicht heimisch geworden sei, so war es doch bei ihrer anerkannten Kunstbildung nicht unmöglich, jenen Mangel zwar nicht vergeßen, aber doch verzeihen zu machen. Amazilly war in den Händen unserer braven Madame Podhorsky der es zwar an Naivetät und Anmuth des Speiels und des Wesens durchaus gebricht; die aber ihre Parthie von Seite des Gesanges in jeder Hinsicht vollkommen ausfüllte. Sie ward auch jedes mal nach Ihrem wunderlieblichen Duette mit Nadori, so wie nach der kleinen Aire im 2ten Acte stürmisch gerufen. Herr Drska4 - ein junger Mann, itzt in Dresden engagirt, mit einer nicht unangenehmen, etwas schwachen Stimme – gab den Nadori mit vielem Fleisze und die allg. leipziger musikalische Zeitung hat Recht, wenn sie diese Parthie zu seinen beßten Rollen zählt. Leider war die Parthie des Tristan dem Herrn Podhorsky, einem abgewirtschafteten Tenoristen, der durch die Unverschämtheit und den Geiz der frühern Direction dem Publicum für einen Barytonisten aufgedrängt worden ist, anvertraut, über deßen Leistungen ich weiter kein Wort verlieren will. Hoffentlich wird bei einer erneuerten Aufführung der Oper die männliche Seite ungemein gewinnen, denn wir besitzen an Herrn Demmer, einen – so viel wie nach der kurzen Zeit scheint – ziemlich routinirten Tenor, und an Herrn Poeck eine wahrhafte Perle von einer Barytonstimme, wenn gleich benanntem Herrn Poeck noch so manches im Gesange zu lernen übrig ist. Den Oberbramin Dandau ward von Herrn Illner – itzt in Wien engagirt – nicht übel gegeben. Orchester und Chöre waren brav jedoch merkte man auch wieder in dieser Oper, wie sehr es dem lieben Capellmeister Triebensee am poetisch-ästhetisch-gebildeten Musiksinn abgehe; wenigstens waren meiner Ansicht nach viele Tempi vergriffen, und selbst das leidige und mir schon gegen erwähnte Kürzen und Streichen - z.B. die Weglaßung der wiederholten Perioden im Terzett des ersten Finales, oder im Duette zwischen Dandau und Nadori – und andere derlei grobe(, unverantliche Barbarismen blieben wie gewöhnlich nicht aus. Muß sich doch sogar der göttliche Mozart gefallen laßen, dasz mitunter herrliche Mittelsätze seiner dramatischen Stücke auf die kopfloseste Weise beschnitten werden! Eine interessante Bekanntschaft, so wohl von Seite der Kunstleistung, als von Seite seines sonstigen Wesens und Gemüths war für uns die Ihres Schülers und enthusiastischen Verehrers des Herrn Pott aus Oldenburg. Er spielte mit vielem Beifalle 2 mal im Theater5, und unter anderm zu meinem ungemeinen Vergnügen ein hier noch nicht gehörtes Concert von Ihnen, dasselbe, welches in Ihrer Violinschule6 aufgenommen ist. Dasz Hummel wieder reist, und hier Concert gab, wird Ihnen bekannt sein, ich könnte aber nicht sagen, dasz er hier ein besonders glückliches Concert gemacht habe.7 Auch Capellmeister Guhr aus Frankfurt am Main lernte ich heuer kennen, muß aber aufrichtig bekennen, dasz – so viel ich Gelegenheit hatte ihn während der Zeit von 3 Stunden, die ich in seiner Gesellschaft verlebte, zu beurtheilen – ich ihn nicht zu meinen Lieblingen machen würde. Wenigstens fand ich ihn in seinen Äußerungen höchst anmassend, ohne in denselben die richtige künstlerische Begründung zu sehen. Von Ihren neuen Werken ist bis itzt nur der Walzer8 hier im Musikhandel erschienen, die Quartetten für Männerstimmen, so wie Ihre neues Streichquintett erwarten Ihre Prager Verehrer noch immer mit heißem Verlangen und Sehnen. Mit wahrhaft kindischer Freude hoffe ich wieder zu hören, welchem neuen Werke sich Ihre ewig schaffender Genius zugewandt hat, denn wahrscheinlich ist Ihre Zeit itzt freier als in der nächsten Vergangenheit. Auch auf Ihre 4te Sinfonie9 wird hier noch geharrt, Gott gebe dasz unsere schläfrigen Musikdirectoren dieselbe bald zur Aufführung bringen, man hört sonst ohnehin die ganze Zeit nichts wie blinden Lärm, und sehnt sich unendlich einmal wieder nach echtem Kunstgenuße. Mit wahrer Scheu und Bangigkeit erfülle ich Ihren wohlwollenden gütigen Wunsch indem ich ein Exemplar meiner Motette10 dem nächsten Postwagen unter Ihrer Adresse übergebe. Ihre mir so vielfach bekannt gewordene künstlerische Herablaßung macht mich hoffen, daß Sie die schwachen Versuche des Dilettanten nicht durchaus verwerfen werden, und sollte mein Werklein so glücklich sein, dem gröszten teutschen Meister zum wenigsten kein Aergerniß zu geben zu haben, so will ich die Augenblicke seiner Erzeugung segnen. Wie überaus glücklich mich übrigens jede – auch die tadelnde – Beurtheilung dieses Versuches von Ihnen machen würde, brauche ich nicht erst zu erwähnen, es war ja immer für mich das höchste mir gehoffte musikalische Glück, irgend einen Versuch meiner geringen Fähigkeit Ihnen, den ich so ungemein verehre, vorlegen zu dürfen! Im Voraus bitte ich um Nachsicht, wenn etwa in der Abschrift einige Schreibfehler stehn geblieben sein sollten; da meine bis itzt so sparsam gemeßene Zeit eine genaue Durchsicht nicht verstattete. Wollte Gott, die Schreibfehler wären das Einzige, was Ihren Blick bei der Durchsicht stört! Wenn mir die nöthige Zeit bliebt, so hoffe ich, vielleicht bald im Stande zu seine eine schon seit längerm begonnene Vocal-Kirchencomposition zum Ende zu bringen. Wer weiß aber, welche neue Arbeit die Vollendung verhindert, bei uns armen Dilettanten ist es ohnehin nur11 der Wille, der einigen Werth hat, die Kraft bleibt immer weit zurück! Der wird aber gewiß nie ersterben, und gewiß und unentreißbar bliebt doch stets die Idee das ewig Schöne, wird die Erinnerung der Liebe und Dankbarkeit an ihren größten und kräftigsten Pfleger! Leben Sie sehr wohl, vergeben Sie die Belästigung meines langen Schreibens, und empfangen Sie für sich und für Ihre werthe Familie die wärmsten herzlichsten Grüße von Ihren Prager Verehrern, die Sie voriges Jahr fast um dieselbe Zeit so sehr beglückten12, und insonderheit von meinem Vater. Ergebenst
Louis Kleinwächter.



Dieser Brief ist die Antwort auf den derzeit verschollenen Brief von Spohr an Kleinwächter, 02.03.1834. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Kleinwächter, 16.05.1835.

[1] „be“ über der Zeile eingefügt.
 
[2] „erfolgten“ über der Zeile eingefügt.
 
[3] Vgl. „Prag“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 36 (1834), Sp. 452ff. und 463ff., hier Sp. 452f.; „Prag, den 16. May 1834“, in: Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode (1834), S. 582f. und 591f., hier S. 591; „Theaterbericht vom 18. März“, in: Bohemia 21.03.1834, nicht paginiert.
 
[4] Sic!
 
[5] Vgl. „Theaterbericht vom 24. April“, in: Bohemia 27.04.1834, nicht paginiert.
 
[6] Spohrs 9. Violinkonzert op. 55, in: Louis Spohr, Violinschule, Wien 1833, S. 218-244.
 
[7] Vgl. „Das Concert des Hrn. Ritters von Hummel“, in: ebd. 20.04.1834, nicht paginiert.
 
[8] Erinnerung an Marienbad.
 
[9] Die Weihe der Töne.
 
[10] Graduale (vgl. Kleinwächter an Spohr, 30.11.1833).
 
[11] Hier gestrichen: „immer“.
 
[12] Zu Spohrs Pragaufenthalt vgl. Louis Spohr an Dorette Spohr, 21.07.1833.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (05.03.2019).