Autograf: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Sign. MT/2011/422
Inhaltsangabe: Autographen. Musiker, Schauspieler und Sänger, Bildende Künstler (= Katalog Henrici 76), Berlin 1922, S. 88
Beleg: Autographen-Sammlung enthaltend Musiker-Briefe und Musik-Manuskripte aus dem Nachlasse des berühmten Komponisten Louis Spohr (1784-1859) nebst Beiträgen aller Art (Fürsten, Staatsmänner, Dichter, Gelehrte, Künstler, etc.) aus dem Besitz eines bekannten Berliner Sammlers. Versteigerung zu Berlin Montag, den 15. und Dienstag, den 16. Oktober 1894 (= Katalog Liepmannssohn), Berlin 1894, S. 74

Sr. Wohlgeborn
Herr Herr Kapellmeister
Spohr
General-Director der Oper des
Kurf. Hess. Hof-Theaters
in
Cassel.

frei.1


Wiesbaden den15ten Juni 1834

Wohlgeborner Herr Kapellmeister!
Hochzuverehrender Herr!

Ich weiß nicht, ob Sie geehrter Herr sich meiner noch erinnern2, und bitte Sie daher im Voraus um Entschuldigung wenn ich Ihre Zeit für einige Augenblicke in einer Sache in Anspruch nehme, die mir sehr wichtig ist. Ich bin in diesem Augenblick auf einer Kunstreise begriffen, die ich weniger in meinem, als in dem Interesse eines jungen Frauenzimmer unternahm, das ich in die Musikwelt einführen will, um einem – nicht unbedeutenden Talent, den Anfang auf der schwierigen Bahn zu erleichtern. Fräulein Josephine Puck, Tochter des Königl. Bairischen Direktors des obersten Rechnungshofes ist mir von ihrem Vater übergeben mit der Vollmacht sie an einem anständigen Theater zu engagiren und so ist es schon antunlich(?), daß ich mein Augenmerk vorzüglich auf Cassel richte, wo die Oper unter der Leitung des Verständnißreichsten Künstlers unsers Vaterlands steht, und das junge Talent auf die glänzendste Weise zu vollkommener Ausbildung gelangen könnte. Sie ist 19 Jahre alt, besizt eine starke, ungewöhnlich schöne hohe Sopranstimme, ist eine Schülerin Pellegrinis, liest Partitur, spielt Clavier, spricht französisch und italienisch, und besizt alle die Kenntniße die zur Ausbildung in musikalischer Fug3 gehören. Sie ist seit zwey Jahren beim Theater, hat in Wien im Kärthnerthor Agathe, Emeline4 u.s.w. gesungen5, dann auf den meisten österreichischen Bühnen6, trat in München als Prinzeßin von Navarra und Königin der Nacht auf7, ferner in Köln vor Kurzem als Julia8, Donna Anna9 und Königin d. Nacht10, erst ganz Königl. machte Sie mit derselben Rolle in Maynz Furore, und wird nun hier uns bald(???) die Julia, dann Elvira in Don Juan und s.w. singend. Im Monat August gehe ich mit ihr nach Achen, und wünschte sehr, wenn Sie verehrter Herr meinem Gesuch nicht abgeneigt wären, im September mit ihr nach Cassel auf Gastspiel, und wenn Sie Ihren Beifall erhielte, auf Engagement zu reisen. – Ich kann sie bei Bühnen denen eine korekte(???) musikalische Leitung fehlt durchaus nicht in‘s Engagement treten lassen, da ich sie als dann allein lassen, und fürchten muß, daß sie, ohne freundlichst und sachkundige Belehrung und vernunftgemäße Beschäftigung leicht Rückschritte machen könnte statt vorwärts zu schreiten, indem sie so11 mit Leidenschaft singt, daß sie jede Parthie übernimmt die man ihr zutheilt, wenn es nur gesungen ist, und so schon den Tankred statt der Amenaide12 die eine sehr gute Parthie von ihr ist. Auf solche Weise könnte sie bald ihre Stimme verlieren, und von einer selbst süchtigen Direktion mißbraucht werden.
Gesungen hat sie bereits: Irma in Maurer13.
Agathe. Donna Anna. Anna in der Weißen Frau.14
Emeline. Königin der Nacht. Julia in Vestalin.
Amenaide. Rezia in Oberon. Elvira in der Stummen.15
Pamira in der Bestürmung von Corinth. Ninetta in Gazza ladra16. Prinzeßin von Navarra.17
Faust – Röschen. – (Kunigunde ist aber ihre eigentliche Parthie)
Isabella in L’inganno felice.
Einstudirt hat sie:
Jessonda, Constanze18, Amazilli in Cortez, Euryanthe, Desdemona19. u.s.w.
Dies also mein Anliegen, worauf Sie um eine baldige Antwort höflichst ersuche. –
Ferner frage ich an ob Sie hochverehrter Meister keine Oper mehr schreiben? Ich bin schon so vielfach zu Opern Texten aufgefordert worden, aber – mein Gemüth konnte sich mit dem Zwittergenre der neuern Anforderungen nicht [???], und ohne das Lächeln des innern Gottes kann kein Autor etwas Gutes schaffen, das wißen Sie am besten. – Ich hätte längst gern an Sie geschrieben, aber ich war zweifelhaft, über die Aufnahme die mein Anerbiethen finden möchte, bei der20 heutigen Gelegenheit jedoch soll ich diese Scheu überwinden. Ich trage mich schon lange mit der Idee eine Oper zu dichten, die rein deutsch, eigen- und volksthümlich sey, ohne Teufel und Bagage, und der Composition dennoch große drastische Wirkungen biethe, die jedoch nicht der unnatürlichen Welt der Zauber entlehnt21, sondern auf rein menschlichen, unsrer Gefühlswelt entsproßnen Motiven beruhe. Ein solches Sujet ist die alte Legende der Genofeva, die mit neuen Zusätzen und Veränderungen mancherlei Art nach meiner Ansicht eine würdige Grundlage für ein großes musikalisches Werk liefern dürfte.22 Ein Werk von Ihnen reicht hin mich zu dieser Arbeit zu bestimmen die ich für Sie mit Begeisterung vollenden würde. –
Mich Ihnen hochachtungsvollst empfehlend, zeichne ich mit wahrer Verehrung
Wohlgeborner Herr

Ihre ergebenste
Charl. Birch-Pfeiffer

Wie[sbaden] in der Plötzmühle



Eine Antwort Spohrs ist derzeit nicht bekannt.

[1] Rechts oben auf dem Adressfeld befindet sich ein stark verwischter, nicht mehr lesbarer Poststempel; links neben dem Adressfeld befindet sich der Stem pel „19 JUN[I] 1834“.

[2] Ein früherer Kontakt ist noch nicht ermittelt.

[3]Fug = „Recht, Berechtigung, Befugnis“, „Ehre, Anstand, Schicklichkeit“ (Deutsches Rechtswörterbuch [Online-Version]).

[4] Rollen in Der Freischütz von Carl Maria von Weber und Die Schweizer Familie von Joseph Weigl (in Bezug auf Puck vgl. „Augsburg“, in: Unterhaltungen für das Theater-Publikum (1833), S. 363).

[5] Vgl. „K.K. Hoftheater nächst dem Kärtnthnerthore“, in: Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode (1831), S. 563f.; „Am 14. July: ,Die Schweizerfamilie’“, in: ebd., S. 699; „K.K. Hoftheater nächst dem Kärtnthnerthore“, in: Wiener Theater-Zeitung (1831), S. 278; „K.K. Hoftheater nächst dem Kärtnthnerthore“, in: ebd., S. 362f., hier S. 362; „[Am 29. erschien wieder eine junge Anfängerin]“, in: Allgemeiner musikalischer Anzeiger (1831), S. 99.

[6] Zu Auftritten 1831 in Brünn vgl. „Königlich städtisches Theater“, in: Brünner Zeitung der k.k. priv. mähr. Lehenbank (1831), S. 1065f., hier S. 1066; Brünner Theater-Almanach (1832), S. 10 und 17. – Hinweis auf Engagements in Laibach und Graz: „Buntes aus der Theaterwelt“, in: Wiener Theater-Zeitung (1831), S. 254. – 1832 Anstellung am Josephstädter Theater in Wien: „Wien“, in: Wanderer 17.08.1832, S. [4]; „Stöger’s Theater in Wien“, in: Grazer Zeitung 21.08.1831, S. [4]; „Buntes aus der Theaterwelt“, in: Wiener Theater-Zeitung (1831), S. 724.

[7] Vgl. „München (Die Zauberflöte)“, in: Unterhaltungen für das Theater-Publikum (1833), S. 197-200, hier S. 199).

[8] Rolle in La Vestale von Gaspare Spontini (s.u.).

[9] Rolle in Don Giovanni von Wolfgang Amadeus Mozart.

[10] Rolle in Die Zauberflöte von Mozart.

[11] „so“ über der Zeile eingefügt.

[12] Hauptrollen in Tancredi von Gioachino Rossini.

[13] Le maçon von Daniel-François-Esprit Auber.

[14] La dame blanche von François-Adrien Boieldieu.

[15] La muette de Portici von Auber.

[16] La gazza ladra (Die diebische Elster) von Rossini.

[17] Jean de Paris von Boieldieu.

[18] Rolle in Die Entführung aus dem Serail von Mozart.

[19] Rolle in Otello von Rossini.

[20] Hier gestrichen: „jetzi“.

[21] „entlehnt“ über der der Zeile eingefügt.

[22] Mit ihrem Brief vom 07.05.1845 bot Birch-Pfeiffer den gleichen Stoff Felix Mendelssohn Bartholdy zur Vertonung an (vgl. Felix Mendelssohn Bartholdy, Sämtliche Briefe, Bd. 11, hrsg. v. Susanne Tomkovič, Christoph Koop und Janina Müller unter Mitarb. v. Uta Wald, Kassel u.a. 2016, S. 652).

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (04.06.2021).