Autograf: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohnarchiv (D-B), Sign. 55 Nachl. 76,240
Druck: Edward Speyer, Wilhelm Speyer der Liederkomponist 1790-1878. Sein Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen dargestellt von seinem jüngsten Sohne, München 1925, S. 138ff. (teilweise)

Herrn Kapellmeister L. Spohr
Wohlgeb
Cassel
in Hessen


Frankfurt a/m 1 Mai 1833.

Theurer Freund!

Wohl fühle ich, daß ich diesen Brief mit einer Entschuldigung beginnen sollte, denn ich habe Sie lange auf Nachrichten von uns warten lassen. Zürnen Sie nicht und glauben Sie nicht, daß es Gleichgültigkeit sei; denn wir tragen Sie und die Ihrigen immer im Herzen. Zu vörderst sei Ihnen gesagt, daß es uns Allen recht gut geht und daß wir gesund und vergnügt sind. Indessen habe ich an dem berüchtigten Abend des 3ten April1 im Nachhausegehen aus dem Theater in einiger Gefahr geschwebt, da ein vor mir hergehender Gastwirth einen bedeutenden Bajonettstich erhielt. In demselben Augenblick wurde die Constablerwache von den Truppen erstürmt und ich sah mich auf der Zeil von großen Haufen Menschen umgeben, deren furchtbares Gebrüll mir noch in den Ohren dröhnt. Dieses, sowie der Anblick zweier Leichname, wovon ich den einen sogleich als einen alten Offenbacher Tambour meiner früheren Landwehrkompanie erkannte – später Sergeant unter dem hiesigen Militär – und die Angst und Sorge um meine Familie, alles dieses machte einen erschütternden Eindruck auf mich und ich war nicht imstande in der Nacht ein Auge zu schließen. – Glücklicherweise traf ich fast mit der Nachricht des Vorfalls zu Hause ein, wodurch die Angst meiner armen Frau sehr gemildert wurde. – Ich will mich nun von dieser beklagenswerten Geschichte zu einem heitereren Gegenstand wenden; was ich über Kunst interessantes erlebe, will ich Ihnen mitteilen. Es befindet sich hier ein Lievländischer Edelmann von Gerstorff, bei dem wir regelmäßig Quartette spielen. Ihre neuesten bei André (zwar noch nicht erschienen) haben uns große Freude gemacht und die alten Triebe in meiner Brust wiedererweckt. Irre ich nicht, so haben Sie unterdessen ein 3tes Doppelquartett geschrieben, und da wir eine Ewigkeit warten müssen, bis Ihre Violinschule erscheint, so wird es mit dem Doppel4tet wohl eben so gehen. Wenn Sie daher mir und resp. einem ½ Duzend andrer Menschen einen glücklichen Abend bereiten wollen, so senden Sie mir die ausgeschriebenen Stimmen auf 8 oder 10 Tage. Ich stehe dafür ein, daß kein Mißbrauch damit getrieben wird. – Ein kleiner 13jähriger Junge, Vieuxtemps aus Verviers befindet sich hier, Schüler von Beriot. Ich halte nichts von Wunderkindern, allein ich muß gestehen, daß das Spiel dieses Knaben mich hingerissen hat. Glockenreine Intonation, markiger, seelenvoller Ton, eine klassische Bogenführung und vollkommene Sicherheit sind die Vorzüge dieses kleinen Virtuosen. Er wird von hier nach Kassel gehen, da er durchaus Ihre Bekanntschaft machen will und Sie werden große Freude an ihm haben.
Die bedeutendste musikalische Erscheinung der letzten Zeit, war Kalkbrenner.2 – Sie haben ihn schon – wie er mir sagte – in London gehört. Hat er nun damals schon wie jetzt gespielt, so habe ich Ihnen nichts zu sagen. Nur soviel, daß er mit einer unmöglich zu beschreibenden mechanischen Vollendung einen eigentümlichen Anschlag verbindet und hierdurch dem dürren Instrumente einen beinahe reitzenden Ton entlockt.
Meyerbeers Robert der Teufel hat hier viel Glück gemacht. Sie wissen, daß mir seine früheren Compositionen sowie musikalischen Tendenzen sehr zuwider waren. Allein ich habe mich durch dieses Werk mit ihm versöhnt. – Bei einigem flachen und ultramontanischen Geleyer ist der größte Theil der Oper tief durchdacht und reich an Erfindung. Zwar hat er sehr starke Mittel angewendet, allein sie sind an ihrem Platze. Die Instrumentirung ist auch vortrefflich. Der erste, dritte und 5te Akt sind die besten, doch haben Sie gewiß in einer unserer Zeitungen einen Bericht darüber gelesen. – Nun bin ich recht begierig, über Ihre dortige künstlerischen Verhältnisse – da Sie jetzt wieder Theater geben – etwas zu hören. Dieser Wunsch wird mir gewiß bald durch eine Nachricht von Ihnen erfüllt. Leben Sie nun wohl und grüßen Sie mir die Ihrigen auf Beste.

Ihr treuester W Spy.

Ich hatte diesen Brief bereits geschlossen, als Herr Hofrath Berli um eine Empfehlung für Dme Carl bittet. – Ich thue es hiermit, und empfehle Ihnen Dme Carl deren bedeutendes Talent in Spanien und Italien gewürdigt worden ist. – Dme Carl ist die erste blonde Sängerin die in Cadiz und Sevilla Concert gegeben.



Der letzte überlieferte Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Speyer, 14.12.1832. Der nächste Brief dieser Korrespondenz ist Speyer an Spohr, 08.05.1833.

[1] Vgl. „XI. (oder 4te aussrordentliche) Sitzung der gesetzgebenden Versammlung. Dienstag, den 9. April”, in: Beilage zum Frankfurter Journal 11.04.1833, nicht paginiert; „Die Vorfälle vom 3. April in der Stadt Frankfurt”, in: Unpartheyische 1 (1833), S. 81f. 

[2] Vgl. Allgemeiner musikalischer Anzeiger 5 (1833), S. 75

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (04.03.2016).

Frankfurt, 1. Mai 1833.

Wohl fühle ich, daß ich diesen Brief mit einer Entschuldigung beginnen sollte, denn ich habe Sie lange auf Nachrichten von uns warten lassen. Zürnen Sie nicht und glauben Sie nicht, daß es Gleichgültigkeit sei, denn wir tragen Sie und die Ihrigen immer im Herzen. Zu vörderst sei Ihnen gesagt, daß es uns Allen recht gut geht und daß wir gesund und vergnügt sind. Indessen habe ich an dem berüchtigten Abend des dritten April im Nachhausegehen aus dem Theater in einiger Gefahr geschwebt, da ein vor mir hergehender Gastwirt einen bedeutenden Bajonettstich erhielt. In demselben Augenblick wurde die „Konstablerwacht” von den Truppen erstürmt und ich sah mich auf der Zeil von großen Haufen Menschen umgeben, deren furchtbares Gebrüll mir noch in den Ohren dröhnt; dieses, sowie der Anblick zweier Leichname, wovon ich den einen sogleich als einen alten Offenbacher Tambour meiner früheren Landwehrkompanie erkannte und die Angst und Sorge um meine Familie, alles dieses machte einen erschütternden Eindruck auf mich und ich war nicht imstande in der Nacht ein Auge zu schließen. Glücklicherweise traf ich fast mit der Nachricht des Vorfalls zu Hause ein, wodurch die Angst meiner armen Frau sehr gemildert wurde. – Ich will mich nun von dieser beklagenswerten Geschichte zu einem heitereren Gegenstand wenden, was ich über Kunst interessantes erlebe, will ich Ihnen mitteilen. Es befindet sich hier ein Lievländischer Edelmann, von Gersdorff, bei dem wir regelmäßig Quartette spielen. Ihre neuesten haben uns große Freude gemacht und die alten Triebe in meiner Brust wiedererweckt. Irre ich nicht, so haben Sie unterdessen ein drittes Doppelquartett geschrieben. Wenn Sie mir und einem halben Dutzend anderer Menschen einen glücklichen Abend bereiten wollen, so senden Sie mir die Stimmen auf acht oder zehn Tage. Ich stehe dafür ein, daß kein Mißbrauch damit getrieben wird. – Ein kleiner dreizehnhähriger unge, Vieuxtemps, aus Verviers, befindet sich hier, Schüler von de Bériot. Ich halte nichts von Wunderkindern, allein ich muß gestehen, daß das Spiel dieses Knaben mich hingerissen hat. Glockenreine Intonation, markiger, seelenvoller Ton, eine klassische Bogenführung und vollkommene Sicherheit, sind die Vorzüge dieses kleinen Virtuosen. Er wird von hier nach Cassel gehen, da er durchaus Ihre Bekanntschaft machen will und Sie werden große Freude an ihm haben.
Die bedeutendste musikalische Erscheinung der letzten Zeit war Kalkbrenner. Sie haben i8hn schon, wie er mir sagte, in London gehört. Hat er nun damals schon wie jetzt gespielt, so habe ich Ihnen nichts zu sagen. Nur soviel, daß er mit einer unmöglich zu beschreibenden mechanischen Vollendung einen eigentümlichen Anschlag verbindet und hierdurch dem dürren Instrumente einen beinahe reizenden Ton entlockt.
Meyerbeers ,Robert der Teufel’ hat hier viel Glück gemacht. Sie wissen, daß mir seine früheren Kompositionen sowie musikalischen Tendenzen sehr zuwider waren. Allein ich habe mich durch dieses Werk mit ihm versöhnt. Bei einigem flachen und ultramontanischen Geleier ist der größte Teil der Oper teif durchdacht und reich an Erfindung. Zwar hat er sehr starke Mittel angewendet, allein sie sind an ihrem Platze. Die Instrumentierung ist auch vortrefflich. Der erste, dritte und fünfte Akt sind die besten, doch haben Sie gewiß in einer unserer Zeitungen einen Bericht darüber gelesen ...