Autograf: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohnarchiv (D-B), Sign. 55 Nachl. 76,145
Druck 1: Louis Spohr, Louis Spohr's Selbstbiographie, Bd. 2, Kassel und Göttingen 1861, S. 191 (teilweise) 
Druck 2: Edward Speyer, Wilhelm Speyer der Liederkomponist 1790-1878. Sein Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen dargestellt von seinem jüngsten Sohne, München 1925, S. 121ff. (teilweise)
Druck 3: Louis Spohr, Lebenserinnerungen, hrsg. v. Folker Göthel, Bd. 2, Tutzing 1968, S. 155f., Text mit fehlerhafter Paginierung auch online

Sr. Wohlgeb
Herrn Wilhelm Speyer
in
Frankfurt a/m
 
 
Cassel den 9ten
October 1832.
 
Geliebter Freund,
 
Es ist eine Ewigkeit, daß Sie nicht von sich haben hören lassen, und wenn mir nicht Reisende zuweilen Nachrichten von Ihnen gäben, so würde ich für Ihr Wohlbefinden fürchten. In dieser verhängnisvollen Zeit, wo man in wenigen Stunden ein Opfer der Seuche werden kann, sollten sich Freunde nie so lange ohne Nachrichten lassen! – Daß wir die Schreckliche nun auch haben, wissen Sie aus den Zeitungen. Ich sah sie mit großer Besorgniß immer näher kommen, hauptsächlich, weil ich für meine Frau bei ihrer übergroßen Reizbarkeit sehr fürchtete. Doch dem Himmel sey Dank, sie hat den Ausbruch der Krankheit hier mit vieler Fassung vernommen1 und da sie2 hier sehr milde ist und wir bey unseren isolirten, hohen und gesunden Lage ziemlich gegen Ansteckung gesichert sind, so hat sich in unserem Hause alle Furcht verloren und es geht alles wieder seinen alten, gewohnten, ruhigen Gang.3
Obgleich ich jetzt, ohne alle Theatergeschäfte, Muße genug zur Komposition hätte, so habe ich doch in der letzten Zeit nicht recht zur Arbeit kommen können. Bey dem großen Antheil, den ich an der politischen Wiedergeburt Deutschlands nahm und fortwährend nehme, haben mich die letzten Rückschritte zu sehr geärgert, als daß ich mich hätte ruhig in eine Arbeit vertiefen können. Doch habe ich nach den 3 großen Quartetten, die jetzt bey André gestochen werden ohnlängst unlängst wieder eine große Instrumentalkomposition vollendet. Es ist dies eine 4te Sinfonie, die aber in der Form von den früheren sehr abweicht und nur das mit ihnen gemein hat, daß sie aus 4 Sätzen besteht. Es ist ein Tongemälde nach einem Gedicht von C. Pfeiffer, „Die Weihe der Töne”. Dieß Gedicht wird mit abgedruckt und muß vor der Aufführung entweder im Saal verteilt oder laut vorgetragen werden. Sie ist sehr schwer und ich habe 3 Proben halten müssen, bevor ich sie den hiesigen Musikfreunden in einer 4ten Probe (denn Aufführungen haben wir jetzt gar nicht,) zu hören geben konnte. Besonders der 2te Satz schwer, in welchem das Wiegenlied, der Tanz und das Ständchen jedes in einer anderen Taktart zugleich vorkommen. Der 3te Satz enthält die Kriegsmusik und das Te Deum laudamus, letzteres mit eingewebten Ambrosianischen Lobgesang, der vierte Satz die Grabmusik. Im 1sten Satz hatte ich die Aufgabe, aus den Naturlauten ein harmonisches Ganze zu bilden. Daß dieß sowie das ganze Werk eine schwierige, aber höchst anziehende Aufgabe war, werden Sie aus dem Vorstehenden schon ersehen haben, und wirklich hat sie mir, bevor ich an die Arbeit ging, viel Kopfzerbrechens gemacht. Um so größer war nun aber auch meine Freude, wie ich die Sinfonie hörte und mich überzeugte, daß die neuen Zusammenstellungen, zu denen mich die Aufgabe geführt hatte, wirklich den erwarteten Effekt machten; freilich erst, nachdem alles sorgfältig eingeübt war. Nun wurden aber auch den Zuhörern meine Intentionen völlig klar und ich überzeugte mich, daß diese neue Gattung von Instrumentalmusik, weil sie neben dem Gefühl auch den Verstand in erweiteter Weise beschäftigt, nicht nur den Kenner, sondern auch die Laien in erhöhtem Maße anspricht. Über die Zulässigkeit der, in dem Werke vorkommenden musik. Malereien hatte ich vor der Arbeit mit Hauptmann und andern manchen Disput. Nach gelöster Aufgabe haben sie aber nichts mehr zu erinnern gefunden. – Ich wünschte, Sie könnten die Sinfonie einmal bei uns hören.
Mitte November werde ich mit meiner ganzen Familie, Kindern, Enkeln und Schwiegersöhnen nach Gandersheim zur goldenen Hochzeit meiner Eltern reisen. Wir haben zu diesem schönen Feste schon manche Vorbereitungen getroffen; unter anderm habe ich auch eine kleine Cantate4 componirt, bestehend aus Chören, die von der ganzen Familie gesungen werden, und einigen Solis, die für meine drei Töchter bestimmt sind. Das Orchester wird aus meiner Frau und mir bestehen, Pianoforte mit obligater Violine. Außerdem werden wir Konzert, Schauspiel, Fackeltanz, Feuerwerk, Transparente und Gott weiß was noch alles haben. Wir gedenken Gandersheim um- und umzukehren!
Heute mache ich die erste Orchesterprobe von der Bach’schen Passion, die heute über 8 Tage in der großen Kirche aufgeführt werden soll. Seit 4 Wochen drängen wir den Prinzen um die Erlaubnis dazu, und noch haben wir sie nicht erhalten können; auch bin ich keineswegs sicher, daß sie nicht noch im letzten Augenblick verweigert wird. Gott besser’ es!
Wir sehen nun mit großer Ungeduld einem Briefe von Ihnen entgegen; doch bitte ich Sie, sich den meinen, was nämlich die Länge betrifft, als Muster zu nehmen! – Ihre Pathe Therese würden sie gar nicht wieder erkennen; so hat sie sich verändert. Sie ist fast so groß wie Ida und ein gutes, verständiges Mädchen, die uns viele Freude macht. – Ihre älteste Tochter ist gewiß nun eine vollendete Klaviervirtuosin.5 – Die Freude, daß eine meiner Töchter etwas Bedeutendes in der Musik leisten werde, ist mir leider vesagt. Doch hat Therese eine unendliche Liebe für Musik und singt mit Eifer, doch ohne viel Stimme zu haben. – Ihrer lieben Frau unsere herzlichsten Grüße. Wir sehnen uns sehr, Sie alle einmal wieder zu sehn! Mit inniger Freundschaft stets Ihr Louis Spohr.



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Speyer, 05.12.1831. Speyers Antwortbrief ist derzeit verschollen.
 
[1] Hier gestrichen: „Aufge-”; „ver” über die Streichung geschrieben.
 
[2] Gestrichen: „die Krankheit”.
 
[3] Vgl. „Cholera in Kassel”, in: Cholera orientalis. Extrablatt zum allgemeinen Repertorium der gesammten deutschen medizinisch-chirurgischen Journalistik, hrsg. v. Carl Ferdinand Kleinert, Leipzig 1832, S. 1019).
 
[4] Festgesang WoO 69.
 
[5] Antonie Speyer.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (03.03.2016).

[9. Oktober 1832]
 
Obgleich ich jetzt, ohne Theatergeschäfte, Muße genug zum Componiren hätte, so habe ich doch in der letzten Zeit nicht recht zur Arbeit kommen können. Bei dem großen Anteil, den ich an der politischen Wiedergeburt Deutschlands nahm und fortwährend nehme, haben mich die letzten Rückschritte zu sehr geärgert, als daß ich mich hätte ruhig in eine Arbeit vertiefen können. Doch habe ich unlängst wieder eine große Instrumental-Composition vollendet. Es ist dies eine vierte Sinfonie, die aber in der Form von den früheren sehr abweicht und nur das mit ihnen gemein hat, daß sie aus vier Sätzen besteht. Es ist ein Tongemälde nach einem Gedicht von Karl Pfeiffer, „Die Weihe der Töne”, welches mit abgedruckt und entweder vor der Aufführung im Saal verteilt oder laut vorgetragen werden muß. Im ersten Satz hatte ich die Aufgabe, aus den Naturlaufen ein harmonisches Ganze zu bilden. Dies wie das ganze Werk war eine schwierige, aber höchst anziehende Aufgabe &c.

Cassel, 9. Oktober 1832.
 
Es ist eine Ewigkeit, daß Sie nicht von sich haben hören lassen, und wenn mir nicht Reisende zuweilen Nachrichten von Ihnen gäben, so würde ich für Ihr Wohlbefinden fürchten. In dieser verhängnisvollen Zeit, wo man in wenigen Stunden ein Opfer der Seuche werden kann, sollten sich Freunde nie so lange ohne Nachrichten lassen! Daß wir die Schreckliche nun auch haben, wissen Sie aus den Zeitungen. Ich sah sie mit großer Besorgnis immer näher kommen, hauptsächlich, weil ich für meine Frau bei ihrer übergroßen Reizbarkeit sehr fürchtete. Doch dem Himmel sei Dank, sie hat den Ausbruch der Krankheit hier mit vieler Fassung aufgenommen ... Obgleich ich jetzt, ohne alle Theatergeschäfte, Muße genug zur Komposition hätte, so habe ich doch in der letzten Zeit nicht recht zur Arbeit kommen können. Bei dem großen Anteil, den ich an der politischen Wiedergeburt Deutschlands nahm und fortwährend nehme, haben mich die letzten Rückschritte zu sehr geärgert, als daß ich mich hätte ruhig in eine Arbeit vertiefen können. Doch habe ich unlängst wieder eine große Instrumentalkompositione vollendet. Es ist dies ein Vierte Sinfonie, die aber in der Form von den früheren sehr abweicht und nur das mit ihnen gemein hat, daß sie aus vier Sätzen besteht. Es ist ein Tongemälde nach einem Gedicht von C. Pfeiffer, ,Die Weihe der Töne’. Dieses Gedicht wird mit abgedruckt und muß vor der Aufführung entweder im Saal verteilt oder laut vorgetragen werden. Sie ist sehr schwer, besonders der zweite Satz, in welchem das Wiegenlied, der Tanz und das Ständchen jedes in einer anderen Taktart zugleich vorkommen. Der dritte Satz enthält die Kriegsmusik und das „Te Deum laudamus’, letzteres mit eingewebten Ambrosianischen Lobgesang, der vierte Satz die Grabmusik. Im ersten Satz hatte ich die Aufgabe, aus den Naturlaufen ein harmonisches Ganze zu bilden. Daß dieses sowie das ganze Werk eine schwierige, aber höchst anziehende Aufgabe war, werden Sie aus dem vorstehenden schonersehen haben, und wirklich hat sie mir, bevor ich an die Arbeit ging, viel Kopfzerbrechens gemacht. Um so größer war nun aber auch meine Freude, wie ich die Sinfonie hörte und mich überzeugte, daß die neuen Zusammenstellungen, zu denen mich die Aufgabe geführt hatte, wirklich den erwarteten Effekt machten, freilich erst, nachdem alles sorgfältig eingeübt war. Nun wurden aber auch den Zuhörern meine Intentionen völlig klar und ich überzheugte mich, daß diese neue Gattung von Instrumentalmusik, weil sie neben dem Gefühl auch den Verstand in unerwarteter Weise beschäftigt, nicht nur den Kenner, sondern auch die Laien in erhöhtem Maße anspricht. Über die Zulässigkeit der in dem Werke vorkommenden Musikmalereien hatte ich vor der Arbeit mit Hauptmann und anderen manchen Disput. Nach gelöster Aufgabe haben sie aber nichts mehr zu erinnern gefunden. Ich wünschte, Sie könnten die Sinfonie einmal bei uns hören.
Mitte November werde ich mit meiner ganzen Familie, Kindern, Enkeln und Schwiegersöhnen, nach Gandersheim zur goldenen Hochzeit meiner Eltern reisen. Wir haben zu diesem schönen Feste schon manche Vorbereitungen getroffen; unter anderem habe ich auch eine kleine Kantate komponiert, bestehend aus Chören, die von der ganzen Familie gesungen werden, und einigen Solis, die für meine drei Töchter bestimmt sind. Das Orchester wird aus meiner Frau und mir bestehen, Pianoforte mit obligater Violine. Außerdem werden wir Konzert, Schauspiel, Fackeltanz, Feuerwerk, Transparente und Gott weiß was noch alles haben. Wir gedenken Gandersheim um und umzukehren!
Heute mache ich die erste Orchesterprobe von der Bachschen Matthäuspassion, die heute über acht Tage in der großen Kirche aufgeführt werden soll. Seit vier Wochen drängen wir den Prinzen um die Erlaubnis dazu und noch haben wir sie nicht erhalten können, auch bin ich keineswegs sicher, daß sie nicht noch im letzten Augenblick verweigert wird. Gott bessere es!
Wir sehen nun mit großer Ungeduld einem Briefe von Ihnen entgegen, doch bitte ich Sie, sich den meinen, was nämlich die Länge betrifft, als Muster zu nehmen ...
Ihre älteste Tochter ist gewiß nun eine vollendete Klaviervirtuosion. Die Freude, daß eine meiner Töchter etwas Bedeutendes in der Musik leisten werde, ist mir leider vesagt ...

[9. Oktober 1832]
 
Obgleich ich jetzt, ohne Theatergeschäfte, Muße genug zum Komponieren hätte, so habe ich doch in der letzten Zeit nicht recht zur Arbeit kommen können. Bei dem großen Anteil, den ich an der politischen Wiedergeburt Deutschlands nahm und fortwährend nehme, haben mich die letzten Rückschritte zu sehr geärgert, als daß ich mich hätte ruhig in eine Arbeit vertiefen können. Doch habe ich unlängst wieder eine große Instrumental-Komposition vollendet. Es ist dies eine vierte Symphonie, die aber in der Form von den frühern sehr abweicht. Es ist ein Tongemälde nach einem Gedichte von Karl Pfeiffer: ›Die Weihe der Töne‹. Dieses Gedicht wird mitabgedruckt und muß vor der Aufführung im Saale verteilt oder laut vorgetragen werden ... Im ersten Satz hatte ich die Aufgabe, aus den Naturlauten ein harmonisches Ganzes zu bilden. Daß dies wie das ganze Werk eine schwierige, aber höchst anziehende Aufgabe war, werden Sie aus dem Vorstehenden schon ersehen haben, und wirklich hat sie mir, bevor ich an die Arbeit ging, viel Kopfzerbrechens gemacht. Um so größer war nun aber auch meine Freude, wie ich die Symphonie hörte und mich überzeugte, daß die neuen Zusammenstellungen, zu denen mich die Aufgabe geführt hatte, wirklich den erwarteten Effekt machten, freilich erst, nachdem alles sorgfältig eingeübt war. Nun wurden aber auch den Zuhörern meine Intentionen völlig klar, und ich überzeugte mich, daß diese neue Gattung von Instrumentalmusik, weil sie neben dem Gefühl auch den Verstand in unerwarteter Weise beschäftigt, nicht nur den Kenner, sondern auch den Laien in erhöhtem Maße anspricht. Über die Zulässigkeit der in dem Werke vorkommenden Musikmalereien hatte ich vor der Arbeit mit Hauptmann und andern manchen Disput. Nach gelöster Aufgabe haben sie aber nichts mehr zu erinnern gefunden.