Autograf: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohnarchiv (D-B), Sign. 55 Nachl. 76,140


Druck: Edward Speyer, Wilhelm Speyer der Liederkomponist 1790-1878. Sein Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen dargestellt von seinem jüngsten Sohne, München 1925, S. 104f. (teilweise)

Marienbad den 5ten
Juli 1830

Geliebter Freund,

Obgleich seit einiger Zeit meine langen Mittheilungen nur spärliche Erwiederungen von Ihrer Seite erwirkt haben und Ihr Interesse sich größtentheils auf die Handelsgeschäfte concentrirt zu haben scheint, so ist es mir doch seit langem eine zu angenehme Gewohnheit, Ihnen von Zeit zu Zeit Nachricht von unserm Leben und meinem Kunsttreiben zu geben, als daß ich damit aufhören könnte.
Seit 3 Wochen bin ich mit meiner Frau und Therese hier im Bade. Das Übelbefinden meiner Frau in dem letzten Jahre machte eine Kur sehr nöthig und sie gebraucht sie mit großem Ernst und gutem Erfolg. Therese und ich trinken das Wasser zur Gesellschaft mit und wenn ich nicht irre, so hilft es mir ein wenig von meiner überflüssigen Corpulenz. Marienbad ist hübsch gelegen und überreich an reitzenden Spatziergängen; bey dem unfreundlichen, kalten Wetter aber doch sehr langweilig. Zum Glück fand ich Raupach hier, den ich früher in Cassel bereits hatte kennen lernen. Er hat uns durch seine geistreiche und witzige Unterhaltung manche Stunde verkürzt. Vor 3 Tagen ist er wieder abgereiset.
Paganini habe ich in seinen beyden, zu Cassel gegebenen Concerten mit dem höchsten Interesse gehört. Seine linke Hand, die immer reine Intonation und seine G Saite sind bewunderungswürdig. In seinen Kompositionen und seinem Vortrag ist aber eine sonderbare Mischung von höchst Genialem und kindischen und geschmacklosem, weshalb man sich abwechselnd angezogen und abgestoßen fühlt. Der Totaleindruck, besonders nach öftern Hören ist bey mir nicht befriedigend gewesen und ich habe keine Sehnsucht ihn wieder zu hören.
Am 2ten Pfingsttage war er Mittags mein Gast in Wilhelmshöhe und sehr heiter, ja selbst ausgelassen. Abends wurde Faust gegeben, im Ganzen gut, obgleich die Schätzel heiser und Wild [zerstreut] war. Unser neuer Bassist Weber sang und spielte den Mefistofeles über Erwarten gut, wenigstens besser wie sein Vorgänger. Paganini hörte die Oper zum erstenmal und schien großes Interesse daran zu nehmen. - Höchstwarscheinlich werden wir Wild behalten, da Graf Gallenberg Banquerout gemacht hat.1 Ich erwarte mit je[dem] Tage die bestimmte Nachricht. Da es mit Wild [nicht] lange mehr dauern kann (besonde[rs] nimmt sein Gedächtnis sehr ab), so hätte ich lieber gewünscht, Rauscher wäre engagirt worden. Die [Un]terhandlungen mit ihm waren bis zum Abschluß gediehen, als die Nachricht von der Auflösung d[er] Wiener Oper in Cassel ankam. Rauscher hat ni[cht] die Kraft der Stimme und die Leidenschaftlichkeit in heftigen Scenen wie Wild aber auch sehr schöne St[imme] guter Schule und mehr Geläufigkeit wie dieser, [da]bey Jugend und gutes Spiel.
Die beyden Sopranparthien in meiner neuen Oper habe ich der Traut2 und Bamberger gegeben, da [die] Schweitzer-Roller seit ihrer Niederkunft so detonirt, daß es nicht auszuhalten ist. Die Proben vor den Ferien waren bis zu einer vollständigen Orchesterprobe gediehen, die mir viel Freude gemacht hat, da sie mich wegen des Efekts der Musick für sich sicher stellte. Begierig bin ich nun zu hören, ob sie sich der Scene gut anschließt und ob die Handlung von dramatischer Wirkung ist. Den 14ten kehre ich nach Cassel zurück um Tags darauf die Proben gleich wieder zu beginnen. Die Ausstattung wird reich und geschmackvoll seyn. - Nach Darmstadt ist zur Wiedereröffnung des Theaters in der neuen Gestalt Jessonda verlangt worden. Schreiben Sie mir doch etwas über die dortigen Verhältnisse. Ist Hofrath Küstner wirklich Direktor geworden, so darf ich hoffen, bald meine andern Opern auch auf dem dortigen Repertoir[e] zu sehen. - Sie haben mir nicht einmal eine Zeile über die Aufführung meines Oratoriums3 in Frankfurt geschrieben! Waren Sie nicht gegenwärtig?
Ich hoffe, Sie werden sich in einer freien Stunde nun einmal hinsetzen, und mir einen o[rdend]lichen langen Brief schreiben. Es würde mich sehr freuen, wenn ich ihn bey meiner Zurückkunft in Cassel vorfände! - Dorette und Therese grüßen alle die lieben Ihrigen herzlichst.
Mit wahrer Freundschaft stets ganz der Ihrige

Louis Spohr.



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Speyer, 16.04.1830. Speyers Antwortbrief ist derzeit verschollen.

[1] Gallenberg war der Pächter des Kärntnertor-Theaters in Wien, der Wild engagieren wollte (vgl. „Wien, 14. Mai”, in: Neue Augsburger Zeitung (1830), S. 553). 

[2] Agnes Traut, später verheiratete Pirscher.

[3] Die letzten Dinge.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (02.03.2016).

Marienbad, 5. Juli 1830.

Obgleich seit einiger Zeit meine langen Mitteilungen nur spärliche Erwiderung von Ihrer Seite erwirkt haben und Ihr Interesse sich größtenteils auf die Handelsgeschäfte konzentriert zu haben scheint, so ist es mir doch seit lange eine zu angenehme Gewohnheit, Ihnen von Zeit zu Zeit Nachricht von unserem Leben und meinem Kunsttreiben zu geben, als daß ich damit aufhören könnte. –
Seit drei Wochen bin ich mit meiner Frau hier im Bade ... Marienbad ist hübsch gelegen und überreich an reizenden Spaziergängen, bei dem unfreundlichen kalten Wetter aber doch sehr langweilig. Zum Glück fand ich Raupach hier, den ich früher in Cassel bereits hatte kennen lernen. Er hat uns durch seine geistreiche und witzige Unterhaltung manche Stunde verkürzt. Vor drei Tagen ist er leider abgereist.
Paganini habe ich in seinen beiden zu Cassel gegebenen Konzerten mit dem höchsten Interesse gehört. Seine linke Hand, die immer reine Intonation und seine G-Saite sind bewunderungswürdig. In seinen Kompositionen und seinem Vortrag ist aber eine sonderbare Mischung von höchst Genialem und Kindischem und Geschmacklosem, weshalb man sich abwechselnd angezogen und abgestoßen fühlt. Der Totaleindruck, besonders nach öfterem Hören, ist bei mir nicht befriedigend gewesen, und ich habe keine Sehnsucht, ihn wieder zu hören. – Am zweiten Pfingsttage war er Mittags mein Gast in Wilhelmshöhe und sehr heiter, ja selbst ausgelassen. Abends wurde Faust gegeben. Paganini hörte die Oper zum ernstenmal und schien großes Interesse daran zu nehmen. – Höchstwahrscheinlich werden wir Wild in Cassel behalten, da Graf Gallenberg Bankrott gemacht hat ... Den 14. kehre ich nach Cassel zurück, um tags darauf die Proben gleich wieder zu beginnen ...