Autograf: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohnarchiv (D-B), Sign. 55 Nachl. 76,138

Cassel den 13ten
Aprill 30.

Geliebter Freund,

Ihr Br[ief] hat eine angenehme Hoffnung zerstört! Wir hatten es uns so freundlich ausgemalt, Sie diesen Sommer bey uns zu sehen! - Vieleicht könnten Sie aber zu einer andern Zeit sich eher von Ihren Geschäften losmachen, etwa Pfingsten - denn an Festtagen wird doch sicher nicht spedirt und unter 5 Leuten werden Sie doch einen haben, dem Sie auf 8 Tage Ihre Geschäfte anvertrauen können! - Geben Sie uns bald bessere Nachrichten!
Ihr gütiges Anerbieten in Beziehung auf Vetter nehme ich dankbar an. Ich wünschte nämlich, daß Sie sich bey ihm, wie aus eigenem Antrieb erkundigten, ob seine Verhältnisse ihm nun ein Engagement bey uns wünschenswerth machen? Für welchen Fall Sie sich erböten, es mich wissen zu lassen. Sie könnten auch einfließen lassen, daß Sie von mir wüßten, daß wir zwar mit einigen Tenoristen in Unterhandlung stünden, aber noch nicht abgeschlossen hätten und mit ihm am liebsten wieder anknüpfen würden, wenn wir nämlich überzeugt werden könnten, daß es ihm Ernst sey.
Wir stehen mit Rauscher in Unterhandlung, der im Mai hier gastiren wird. Er ist sehr brav, gebildeter als Vetter; ich fürchte aber, er wird sich in Hannover, selbst mit bedeutenden Geldopfern nicht losmachen können. Noch reflecktiren wir auf einen jungen Tenoristen1, der eben aus Petersburg zurückgekehrt und der Liebling des dortigen Publikums war. Ich stehe nur in Furcht, man wird ihn uns in Berlin vor der Nase wegfischen. Die Schätzel kommt auch im Mai zu Gastspiel und wir wünschen sehr, sie zu gewinnen, obgleich es aber heißt, sie sey in Berlin unzufrieden, so hege ich doch wenig Hoffnung. - Meine neue Oper2 wird ausgeschrieben und ich werde sie noch vor den Ferien einstudiren müssen. Ich halte große Stücke darauf und freue mich unendlich sie zu hören. Doch muß noch vorher ein Bassist, der in einigen Tagen zu Gastspiel kommen wird3, gefallen und engagirt werden, sonst kann ich die Hauptrolle, die des Alchymisten nicht besetzen und werde vieleicht gar noch eine andere Oper für den Geburtstag wählen müssen.
Meine neuen Quartetten haben wir diesen Winter wieder mehrere male gemacht und mein Urtheil steht nun fest. Das 1ste und 3te machen, so genau executirt wie hier, zwar Efekt, doch zeichne ich sie nicht sehr aus; dafür hat sich aber das 2te zum Liebling unseres Quartettcirkels aufgeschwungen und wird, wo nicht für das beste, doch für eins der besten von allen meinen Quartetten gehalten. - Die Ausgabe ist leider voller Stichfehler, die zwar bey späteren Expl. größtentheils corrigirt sind, bey allen zuerst verschickten Exempl. aber allen Genuß bey der Execution stören.
Auch die neuen Quartetten von Ries habe ich einige mal gespielt; sie haben mir sehr gut gefallen; die andern finden sie aber uninteressant. - Am ersten Ostertage wurde mein Vater unser zum 1sten mal mit großem Orchester aufgeführt und ich hatte große Freude über den Eindruck, den es zu machen schien. Es dauert 40 Minuten und wird sich daher sehr gut als 3ter Theil zum Oratorium4 machen lassen.
Leben Sie wohl. Die herzlichsten Grüße. Erfreuen Sie mich bald mit Nachrichten über Vetter.
L. Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf einen derzeit verschollenen Brief von Speyer an Spohr. Der nächste Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Speyer, 16.04.1830.

[1] Vermutlich Ferdinand Riehm (vgl. Spohr an Adolph Hesse, 25.02.1830). 

[2] Der Alchymist.

[3] Noch nicht ermittelt.

[4] Die letzten Dinge.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (02.03.2016).