Autograf: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohnarchiv (D-B), Sign. 55 Nachl. 76,137
Druck: Edward Speyer, Wilhelm Speyer der Liederkomponist 1790-1878. Sein Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen dargestellt von seinem jüngsten Sohne, München 1925, S. 104 (teilweise)

Cassel den 18ten
März 1830

Geliebter Freund,

Verlegen über den Anfang zu diesem Briefe, fühle ich nur recht lebhaft, wie unartig es war, daß ich Ihnen nicht gleich damals für die freundliche Erfüllung meiner Bitte gedankt habe, empfangen Sie wenigstens die Versicherung, daß ich den Dank immer empfunden habe, nur nicht dazu kommen konnte, ihn brieflich auszusprechen. - Für die letzten 3 - 4 Wochen bin ich freilich entschuldigt, denn diese waren für uns eine Zeit der Sorgen und Angst. Die Kinder der Ida bekamen die Masern, zulezt sie sellbst und bey ihr wurde die Krankheit so bösartig, daß man 4 Tage für ihr Leben fürchtete. Von uns konnte ihr niemand Beystand leisten, weil wir für Therese die Ansteckung fürchteten. Alle Vorsicht war aber unnütz, denn Therese bekam sie danach und nun gab es wieder für meine Frau schlaflose Nächte, doch nun ist alles außer Gefahr, wenn auch nicht hergestellt. Daß ich in einer solchen Zeit nicht arbeiten konnte, erklärt sich leicht; auch gab’s diesen Winter ungewöhnlich viel im Theater zu thun. Doch ist die neue Oper bis auf 2 Nummern und die Ouverture fertig und es ist nun bestimmt, daß sie zum Geburtstag des Kurfürst[en] gegeben werden soll.
Unser einziger Wunsch ist nun, daß Sie und Ihre liebe Frau uns zu dieser Zeit besuchen und da diesen Sommer unleugbar die Reihe an Ihnen ist, zu uns zu kommen, so hoffen wir keine Fehlbitte zu thun.
Daß Paganini nicht zu uns gekommen ist und das Ihnen gegebene Versprechen unerfüllt gelassen hat, wissen Sie. Vor 6 Wochen etwa, schrieb er mir, daß er nun, weil er sich zu lange in den Städten am Rhein aufgehalten habe, direkt nach Paris gehen müsse, um dort und in London nicht die beste Zeit zu versäumen.1 Statt dessen sezt er sich 4 Wochen nach Frankfurt und macht sogar einen Abstecher nach Würzburg.2 Hier hätte er doch sicher unendlich bessere Geschäfte gemacht. Fräulein Sontag (oder vielmehr Gräfin Rossi) hat in 2 Concerten mit dem Geschenk des Kurfürsten 3.000 Rthlr. reinen Gewinn gehabt.3 Ebensoviel hätte Paganini auch haben können. - Die Sontag, die ich zum erstenmal hörte, hat mich übrigens ganz entzückt. Ich habe nie besser singen hören. Daß sie alle Arten von Passagen und Gesangverzierungen in höchster Vollendung macht ist würklich nur ihr kleinstes Verdienst und hat mich nicht überrascht; weil ich es erwartete; daß sie aber mit tiefem Gefühl und dem reinsten Geschmack, besonders Mozart’sche Musik singt, hat mich in Erstaunen gesezt. Ich glaubte sie ganz in Rossini versunken! Mit der lezten Arie der Donna Anna hat sie mich bis zu Thränen gerührt. - Es ist wirklich ein ganz unersetzlicher Verlust für die Bühne, daß sie ihrem Manne und dessen Verwandten hat versprechen müssen, das Theater nicht wieder zu betreten.
Mit diesem langen Briefe hoffe ich meine Schuld gesühnt zu haben und sehe einer recht baldigen und eben so langen Antwort entgegen, die aber vor allem die Zusage Ihres Besuchs im Juli enthalten muß!
Von den Meinigen die herzlichsten Grüße. Mit inniger Freundschaft stets

Ihr
Louis Spohr

Autor(en): Spohr, Louis
Adressat(en): Speyer, Wilhelm
Erwähnte Personen: Paganini, Niccolò
Rossini, Gioachino
Sontag, Henriette
Spohr, Dorette
Spohr, Therese
Wilhelm II. Hessen-Kassel, Kurfürst
Wolff, Ida
Erwähnte Kompositionen: Spohr, Louis : Der Alchymist
Erwähnte Orte: Frankfurt am Main
Kassel
London
Paris
Würzburg
Erwähnte Institutionen: Hoftheater <Kassel>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1830031802

https://bit.ly/

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf einen derzeit verschollenen Brief von Speyer an Spohr. Speyers Antwortbrief ist derzeit ebenfalls verschollen.

[1] Dieser Brief ist derzeit verschollen.

[2] Vgl. „Würzburg, 20. Jan.”, in: Didaskalia 22.01.1830, nicht paginiert.

[3] Vgl. „Gedichte auf Fräulein Henriette Sonntag”, in: Allgemeine musikalische Zeitung 32 (1830), Sp. 208f. 

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (02.03.2016).

Cassel, 18. März 1830.

... Fräulein Sonntag, oder vielmehr Gräfin Rossi, hat in zwei Konzerten, mit dem Geschenk des Kurfürsten, 3000 Taler reinen Gewinn gehabt., Sie, die ich zum erstenmal hörte, hat mich übrigens ganz entzückt. Ich habe nie besser singen hören. Daß sie alle Arten von Passagen uned Gesangsverzierungen in höchster Vollendung macht, ist natürlich nur ihr kleinstes Verdienst und hat mich nicht überrascht, weil ich es erwartete; daß sie aber mit tiefem Gefühl und dem reinsten Geschmack besonders Mozartsche Musik so singt, hat mich in Erstaunen gesetzt. Ich glaubte sie ganz in Ronssini versunken! Mit der letzten Arie der ,Donna Anna’ hat sie mich bis zu Tränen gerührt. Es ist wirklich ein ganz unersetzlicer Verlust für die Bühne, daß sie ihrem Manne und dessen Verwandten hat versprechen müssen, das Theater nicht wieder zu betreten.