Autograf: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohnarchiv (D-B), Sign. 55 Nachl. 76,237
Druck: Edward Speyer, Wilhelm Speyer der Liederkomponist 1790-1878. Sein Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen dargestellt von seinem jüngsten Sohne, München 1925, S. 102f. (teilweise)

O[ffe]nbach am 17 Septb. 1829.

Theurer Freund!

Der Zustand in welchem sich jetzt Ihre Oper befindet, und die mannichtfaltigen Unannehmlichkeiten welche daraus für Sie hervorgehen, thun mir in der Seele leid. Indessen denke ich, wird sich durch Geld und Glück alles ersetzen lassen.
Ich habe an Ries laut beifolgender Quittung 15 Friedd’or in Gold bezahlt. Mein Guthaben an Ihnen ist f 35.26 x. Der arme Ries hat sein jüngstes Kind verloren, und ist nebst seiner Frau sehr leidend.
Sie können wohl denken, daß Guhr, der nicht orthographisch schreiben kann, jenen Aufsatz über Paganini nicht geliefert hat und jederman weiß dies. Die Materialien dazu hat er zum Theil gegeben und der Aufsatz ist von Hofrath Berly redigirt. Guhr benutzt nur das Aufsehen, welches Paganini macht, um sich etwas geltend zu machen und ebenfalls Aufmerksamkeit zu erregen. Ueber den Eindruck, welchen Paganini auf mich gemacht hat, will ich Ihnen ein paar Worte sagen. Ich habe P. zuerst in der Probe, dann in einigen Konzerten und zuletzt in einer Privatgesellschaft gehört, wo er einem Frauenzimmer die F-Sonate von Beethoven accompagnirte. Der erste Eindruck, in der Probe, war, obgleich die höchste Erwartung bei mir vorscherrschte, derart, daß ich in meinem Leben nichts ähnliches empfunden zu haben mir bewußt bin. Frey, aus Mannheim, der neben mir saß, schwamm in einem Tränenmeer. Das geheimnisvolle Helldunkel der Bühne, die merkwürdige Persönlichkeit dieses Mannes, die ungewöhnliche Begeisterung des Orchesters, jeden Augenblick in einen stürmischen Tusch ausbrechend, alles dieses mag wohl die Reizbarkeit der Nerven erhöht haben. Allein die Hauptsache, sein Spiel, sein Vortrag, seine musik. Unarten sogar, die erstaunliche Leichtigkeit und Sauberkeit, mit der er die besonders einem Geiger unbgreiflichen Schwierigkeiten vorträgt, müssen zu hoher Bewunderung hinreißen. Die Cantabile-Stellen und das Adagio singt er in einer wehmütigen, herzzerreißenden und dabei markigen Weise, wie ich sie noch bey keinem Instrumentalisten gehört habe; ungefähr so wie Crescentini1 den ich vor 15 Jahren in Paris hörte, vortrug. Diese wehmütigen Klagen, von einem Leichnam ausgehaucht, müssen die Sinne befangen und man giebt sich dabei allerhand romantischen Träumereien in. Dagegen vernimmt man nicht selten nach dem edelsten Vortrag Ausbrüche der wunderlichsten Bizarrerie und solche veraltete Formen, daß man einen Geiger vergangener Jahrhunderte, etwa einen Lulli oder Tartini zu hören vermeint. Höchst interessant war der Vortrag der Bethovenschen Sonate. Um Ihnen das Wunderlichste davon zu erzählen, so vernehmen Sie, daß er nach der Wiederholung des ersten Teils des Rondos das Thema in Flageolett-Oktav-Doppelgriffen hören ließ! Das Thema des Adagios begann er jedesmal mit dem Auftrich, ein Beweis, daß er sich an gewisse eingeführte Usancen nicht kehrt. Ungeachtet seiner vielen 32 u. 64-Verzierungen habe ich in meinem Leben niemand so streng im Takt spielen hören. Seine Kompositionen sind sehr effektvoll und zum Teil, obgleich etwas veraltet, dennoch originell. Er hat ein wunderschönes Adagio in C-Moll2 hören lassen.
Meine Meßbeschäftigungen erlauben mir nicht länger diesen Brief fortzusetzen. – Gesund sind wir alle u. hoffen das gleiche von den Ihrig

Mit herzl. Liebe stets Ihr WmSp.

Paganini spricht mit großer Verehrung von Ihnen. Er sang mir das Thema „Liebe ist die zarte Blüte”3 welche Arie in einem seiner Conzerte in Berlin gesungen wurde, u. versichterte, er würde nie den Eindruck vergessen, den diese Composition auf ihn gemacht.

Autor(en): Speyer, Wilhelm
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Berly, Carl Peter
Crescentini, Girolamo
Frey, Michael
Guhr, Carl
Lully, Jean-Baptiste
Paganini, Niccolò
Ries, Ferdinand
Tartini, Giuseppe
Erwähnte Kompositionen: Spohr, Louis : Faust
Erwähnte Orte: Berlin
Frankfurt am Main
Kassel
Paris
Erwähnte Institutionen: Hoftheater <Kassel>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1829091732

https://bit.ly/

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf Spohr an Speyer, 06.09.1829. Spohr beantwortete diesen Brief am 20.09.1829.

[1] Der Sopranist Girolamo Crescentini (Identifikation nach Speyer, S. 103).

[2] Noch nicht identifiziert.

[3] Aus Faust.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (02.03.2016).

Offenbach, 17. September 1829.

... Über den Eindruck, welchen Paganini auf mich gemacht hat, will ich Ihnen ein paar Worte sagen. Ich habe ihn zuerst in der Probe, dann in einigen Konzerten und zuletzt in einer Privatgesellschaft gehört, wo er mit einer Dame die F-Sonate von Beethoven spielte. Der erste Eindruck, in der Probe, war, obgleich die höchste Erwartung bei mir vorscherrschte, derart, daß ich in meinem Leben nichts ähnliches empfunden zu haben mir bewußt bin. Frey, aus Mannheim, der neben mir saß, schwamm in einem Tränenmeer. Das geheimnisvolle Helldunkel der Bühne, die merkwürdige Persönlichkeit dieses Mannes, die ungewöhnliche Begeisterung des Orchesters, jeden Augenblick in einen stürmischen Tusch ausbrechend, alles dieses mag wohl die Reizbarkeit der Nerven erhöht haben. Allein die Hauptsache, sein Spiel, sein Vortrag, seine musikalischen Unarten sogar, die erstaunliche Leichtigkeit und Sauberkeit, mit der er die besonders einem Geiger unbgreiflichen Schwierigkeiten vorträgt, müssen zu hoher Bewunderung hinreißen. Die Cantabile-Stellen und das Adagio singt er in einer wehmütigen, herzzerreißenden und dabei markigen Weise, wie ich sie noch bey keinem Instrumentalisten gehört habe; ungefähr so wie Crescentini, den ich vor 15 Jahren in Paris hörte, vortrug. Diese wehmütigen Klagen, von einem Leichnam ausgehaucht, müssen die Sinne befangen und man giebt sich dabei allerhand romantischen Träumereien in. Dagegen vernimmt man nicht selten nach dem edelsten Vortrag Ausbrüche der wunderlichsten Bizarrerie und solche veraltete Formen, daß man einen Geiger vergangener Jahrhunderte, etwa einen Lully oder Tartini zu hören vermeint. Höchst interessant war der Vortrag der Bethovenschen Sonate. Um Ihnen das Wunderlichste davon zu erzählen, so vernehmen Sie, daß er nach der Wiederholung des ersten Teils des Rondos das Thema in Flageolett-Oktav-Doppelgriffen hören ließ! Das Thema des Adagios begann er jedesmal mit dem Auftrich, ein Beweis, daß er sich an gewisse eingeführte Usancen nicht kehrt. Ungeachtet seiner vielen zweiundreißigstel und vierundsechszigstel Verzierungen habe ich in meinem Leben niemand so streng im Takt spielen hören. Seine Kompositionen sind sehr effektvoll und zum Teil, obgleich etwas veraltet, dennoch originell. Er hat ein wunderschönes Adagio in C-Moll hören lassen ... Paganini spricht mit großer Verehrung von Ihnen. Er sang mir das Thema „Liebe ist die zarte Blüte” welche Arie in einem seiner Conzerte in Berlin gesungen wurde, u. versichterte, er würde nie den Eindruck vergessen, den diese Komposition auf ihn gemacht.