Autograf: Beethoven-Haus Bonn (D-BNba), Sign. HCB Br 359
Druck: Ferdinand Ries, Briefe und Dokumente, hrsg. v. Cecil Hill (= Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn 27), Bonn 1982, S. 412f.
Beleg: Autographen-Sammlung enthaltend Musiker-Briefe und Musik-Manuskripte aus dem Nachlasse des berühmten Komponisten Louis Spohr (1784-1859) nebst Beiträgen aller Art (Fürsten, Staatsmänner, Dichter, Gelehrte, Künstler, etc.) aus dem Besitz eines bekannten Berliner Sammlers. Versteigerung zu Berlin Montag, den 15. und Dienstag, den 16. Oktober 1894 (= Katalog Liepmannssohn), Berlin 1894, S. 63

Frankfort a/m 19 Jan. 1829
 
Endlich, lieber Freund, werden Sie denken, einmal die Opera, – gern hätte ich sie Ihnen gleich nach der Rückkunft von H. Hauser geschickt, der mir Ihren Auftrag den nehmlichen Abend noch gab, allein es scheint, hier ist alles bey unserem Theater an eine solche Unordnung gewohnt, daß sie nur darin zu gedeyhen glauben – Ich konnte die Sachen nicht fertig geschrieben erhalten und habe mir nun Copisten in Darmstadt angeschafft. Sehr wurde es mich freuen, sie einmal unter Ihrer Leitung und mit der schönen Stimme der Heinefetter zu hören. Hier soll sie nun auch wieder einstudiert werden – wenn's an dem ist. Sie haben H. Beils einen Tenoristen engagiert, der soll die Rollen von Hauser übernhemen und also auch den Grafen in der Räuberbraut. Was sie hier ohne einen zweyten Bariton machen wollen, weiß ich nicht, einstweilen geht es wie es kann – aber mit unter bitter schlecht. Alles ist in einer solchen Gährung und Mißverständniß, daß es noch zu bewundern ist, wie es noch so fortgeht. Allein, einige unsrer besten, selbst im Orchestre, wünschen weg, wie z.B. der Rotterdammer Baldenecker1, an der ersten Violine, der einer der besten Spieler ist, und dabey so ruhig und gutmüthig, daß man ihn nur manchmal herzlich lachen hört: so wird es wohl fortgehn, bis es endlich ganz zerrüttet ist. Man hat mir versichert, daß Nieser und Dobbler ebenfalls andere Anstellung suchen. Der junge Grund (Ihr Schüler) ist hier, er sagte mir, daß er das Orchestre fast nicht mehr wiedererkenne. Alles erinnert sich mit Freuden der Ruhe, wo Sie hier waren. Es sind noch bey allen Gastrollen Unannehmlichkeiten gewesen, so daß so leicht keiner mehr hierher kommen wird: Und seit mehr als2 zwey Jahren haben wir 4 neue Opern gehabt, wovon die eine 3 mal, die andere, nehmlich die meinige, nur einmal gegeben worden ist.
Ihre neue Sinfonie und Doppelquartett habe ich mit außerordentlichem Vergnügen gehört. Sie sollen jetzt wieder 3 neue Quartetten geschrieben, wo nehmen Sie um Gotteswillen Zeit und Laune her? Manche ungünstige Gerüchte hatten wir über Ihre Gesundheit und der Ihrer lieben Frau, ich weiß leider, daß einiges wahr daran war, doch hoffe ich, alles ist ganz wieder hergestellt. Bey mir im Hause geht es auch einmal gut, einmal schlecht, das deutsche Klima scheint meiner Frau3 doch nicht sehr zuträglich – die Luft ist zu scharf – und ich habe schon manchmal die Idee gehabt, nach Italien oder dem südlichen Frankreich zu gehen, allein wenn ich an die dortige Musik denke, wird mir Angst und Bange. ich arbeite jetzt an einem Oratorium, aber nur in einer Abtheilung – es ist etwas Neues für mich und interessiert mich – Leben Sie recht wohl liebster Freund, herzliche Grüße von meiner und an Ihre liebe Frau, immer
 
Ihr aufrichtiger Freund
Ferd. Ries



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Ries an Spohr, 26.09.1828. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Ries' Nachschrift in Magdalena Köhl an Spohr, 09.05.1829.

[1] Hill identifiziert hier Johann Bernhard Baldenecker, da dieser um 1810 in Amsterdam gewesen sei (Hill in: Ries, Briefe, S. 413, Anm. 4). [Ergänzung 19.06.2019: Egmont Michels und Axel Beer zufolge lautet der zweite Vorname „Baptist“ („Baldenecker (Familie)“, in: Musik und Musiker am Mittelrein 2 | Online, hrsg. v. Axel Beer, Mainz 2018ff.)]. Dagegen spricht, dass dieser Baldenecker in Frankfurt blieb; für diese Indentifizierung im Vergleich zu Ries‘ Brief Gollmicks Bemerkung „ein unverwüstlicher Humor bei rechtlichem Charakter zeichneten ihn besonders aus“ (Carl Gollmick, Handlexicon der Tonkunst, Bd. 2, Offenbach 1857, S. 11; vgl. auch Oscar Paul, Handlexicon der Tonkunst, Bd. 1, Leipzig 1873, S. 90). Möglich wäre auch Johann Daniel Baldenecker, der aus Frankfurt nach Leipzig wechselte (Gollmick, ebd.; Paul, ebd.).
 
[2] „mehr als“ über der Zeile eingefügt.
 
[3] Harriet Ries.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (11.04.2019).